Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
Steinplatt unter ihr. Die Platte begann zu glühen, bis sie zu einem weißen Glanz mit schwerbestimmbaren Umrissen im Zentrum der Plaza wurde, mit Tiahnas Gestalt als Schatten darin.
Obgleich er die Menschen nicht ausmachen konnte, wußte Dunkeljunge, daß sie sich vom Badestein zurückgezogen hatten. Er wandte sich um und versuchte, die Finsternis des Raumes zu durchdringen. Er konnte Khiras Arm an seinem fühlen und ihren unregelmäßigen Atem hören ' aber er konnte sie nicht sehen. »Khira ...«
Sie preßte seinen Arm, ihre Finger waren kalt. »Dunkeljunge, wenn deine Augen brennen, schau nicht auf de Stein.«
»Aber ich kann überhaupt niemanden erkennen.« Es gab nur den leuchtenden Sonnenstein - und Finsternis.
Ihre Finger verkrampften sich. »Dunkeljunge - der Stein kann dich blenden. Schau auf den Rand der Plaza.«
Widerstrebend gehorchte er, aber erst, als die Glut des Badesteins sein Bewußtsein auszufüllen schien und alle anderen Eindrücke blockierte. Lange noch, nachdem er sich abgewandt hatte, sah er den grellen Glanz des Steines so klar, als starre er noch immer auf ihn.
Als die Sonne am Himmel emporglitt, bewegte Tiahna ihren Kopf, um den direkten Sichtkontakt aufrechtzuerhalten. Die Kälte des Raumes, von dem aus Dunkeljunge und Khira zusahen, wurde intensiver, selbst als die Sonne im Zenit des Himmels hing, eine bleiche, gelbe Scheibe. Einsam, unbeirrbar setzte sie ihren Weg am verfinsterten Himmel fort. Tiahna bog sich auf der Steinplatte nach hinten, ihre Augen verfolgten die Bewegung des Gestirns.
Schließlich glitt die Sonne hinter die Berge im Westen. Tiahna senkte die Augenlider, und Dämmerung fiel über das Tal. Der Sonnenuntergangshimmel war kurz rosig, dann wurde er violett und indigoblau.
Die Menschen gingen gemächlich von der Plaza, steif und schweigend. Khira starrte unentwegt hinunter, die Schultern versteift. Dort unten lag bewegungslos Tiahna; ihr wollenes Hemd war zu Asche verbrannt und von ihr gefallen. Dunkeljunge starrte auf sie und fühlte, daß sie ein Stein auf einem Stein war, daß sie nie Fleisch gewesen war, daß sie nie umhergegangen war, nie Dinge getan hatte, die andere Frauen tun. Aber während er noch schaute, glühte der Stein an ihrem Hals auf; ihre Hand bewegte sich zu ihm und drückte ihn.
Er wandte sich Khira zu, und für einen Moment war er über ihre Blässe erschrocken. Ihr Gesicht hing wie ein aschgrauer Mond im halbdunklen Raum. »Sie - wird sie heute nacht dort schlafen? Auf dem Stein?«
Khira erwiderte traurig: »Sie wird bis übermorgen auf dem Badestein liegen bleiben. Dann wird sie die Energie zu den Feldern tragen, um den Schnee zu schmelzen. Das wird nochmals drei Tage in Anspruch nehmen.«
»Und wir werden jeden Tag zusehen?«
»Und verbrennen?« Sie wandte sich um; Stengellampen warfen ein schattenloses Licht in ihre Augenhöhlen und quälten sie. »Niemand schaut zu, wenn sie den Vorgang beendet, die Sonne an sich zu ziehen und Hitze zu verbreiten.«
Er zog sich zurück. »Nicht einmal vom Turm?«
»Nein –
nein.
Wenn du schaust, bevor sie zum Thronsaal kommt, eine Hand von Tagen von jetzt an, und den Gong schlägt, wenn du zum Turm gehst, um zuzuschauen ...
»Was dann?« Seine Stimme klang rauh.
»Du würdest zu ebenso feiner Asche verbrennen wie dein Hemd.«
Sein Herz schlug einmal heftig und erschütterte seinen Brustkorb. »Khira, davon steht nichts in den Schriftrollen.
»Nicht in den Rollen, die du gesehen hast. Aber es gibt geheime Rollen. Alzaja entzifferte einige mit mir in dem Winter bevor sie uns verließ. Sie handelten davon, wie in den unruhigen Zeiten Todesurteile ausgeführt wurden. Die verurteilten Menschen kamen am zweiten Tag des Frühlings zur Plaza und standen dort, um die Konzentration zu beobachten. Und sie wurden zu Asche. Wenn du genau hinschaust, kannst du erkennen, wo sie gestanden haben. Als die unruhigen Zeiten vorbei waren, wurden dort schwarze Fliesenwege angelegt.«
Dunkeljunge zitterte unwillkürlich. Er hatte die schwarzen Fliesenwege vom Turmfenster aus gesehen, als die Arbeiter den Schnee fortgeschaufelt hatten. »Ich werde nicht zuschauen«, versicherte er. »Und Khira – ich werde dich nicht verlassen.«
Statt beruhigt zu sein, zog sie sich von ihm zurück, ihre Augen glitzerten plötzlich. »Das sagst du. Aber du wirst mich verlassen, wenn sie dich fortschickt.«
»Du wirst.
Du wirst mich verlassen, so wie Alzaja es getan hat. Du wirst mir versprechen, bei mir zu bleiben – und du
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