Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
worden wäre, hielt die Gestalt inne und hob den Kopf. »Kadura!« schrie Khira und eilte den Weg hinunter.
Sie warf sich in die Arme ihrer Großmutter und wurde Kaduras schwarzen Umhang eingehüllt. Dann trat sie zurück und blickte ihrer Großmutter ins Gesicht. »Mutters Mutter ...« Doch die Worte erstarben ihr in der Kehle. Sie zog sich unwillkürlich zurück.
Sie hatte nie zuvor Anzeichen von Alter in Kaduras Gesicht entdeckt, nur Stärke und die Fähigkeit zum Mitleid. Aber heute nacht war Schmerz in diesen Augen, und Gesicht war merklich schmaler, gezeichnet. Und irgend was war in ihren Augen ... unwillkürlich blickte Khira rasch tiefer. Unter Kaduras Umhang sah man eine weiße Schärpe, deren Enden ihr bis auf die Knie hingen.
»Upala ...«, sagte Khira mit sinkendem Herzen.
Kaduras beschattetes Gesicht zog sich zusammen, und berührte die Trauerschärpe. »Ja. Wir haben während letzten Wärmesaison gute Freunde unter den Wächterinn verloren, und ihr Herz litt. Ich fand sie am Ende des Winterschlafes tot neben mir.«
Upala ... gegangen. Für einen Moment war Khira wie betäubt, dann erschrak sie heftig. »Aber du – du bist nicht krank?« Rasch ergriff sie Kaduras Hände. Sie waren so kräftig wie stets, aber die Adern standen deutlicher hervor, und die Haut fühlte sich trocken und locker an.
»Ich bin gesund, Tochter meiner Tochter«, versicherte Kadura ihr. »Aber ich bin zu viel allein. Eis entsteht, wo es nicht sein sollte. Ich bin froh, daß du gekommen bist.«
»Und ich habe einen Freund mitgebracht«, erwiderte Khira rasch.
»Ja, Nezras Stein brachte uns die Botschaft. Daß du ein Kind aus Anderswo mitbringen würdest, das wissen möchte, wie wir leben.« Kadura blickte den Berg hinauf, ihre Augenbrauen verzogen sich zu einem schwachen Stirnrunzeln. »Meinst du, er richtet seinen Spieß auf mein Herz?«
Aufgeschreckt wandte sich Khira um und blickte den Weg empor. Es war nicht länger Dunkeljunge, der auf dem Fels stand. An seiner Stelle kauerte der Lenkende mit erhobenem Spieß. Empörung ergriff von Khira Besitz. Wütend lief sie den Weg hoch. Sie packte den Arm des Lenkenden, wirbelte ihn herum, blind gegenüber der raschen Furcht in seinen Augen.
»Wolltest du meine Großmutter aufspießen?«
Er schreckte zurück und leckte sich die trockenen Lippen. «Wie – wie konnte ich wissen, wer es war? In der Dunkelheit? Sie kam, ohne zu rufen ... sie zog dich unter ihren Umhang. Sie ... sie konnte irgend jemand sein!«
»Gut, aber sie ist es nicht! Sie ist meiner Mutters Mutter, und sie ist gekommen, um uns zu den Herden mitzunehmen. Aber sie kann auch zurückgehen und uns hier verlassen, wenn sie möchte. Oder wir beide könnten fortgehen und
dich
verlassen.«
Das Gesicht des Lenkenden verzog sich in Panik.
»Das würdest du nicht tun!
Khira ...«
»Das würde ich nicht tun?« Khira griff nach dem Spieß und schlug auf das Band mit Hühnern, das er gedankenlos in der Hand trug. Ihr Zorn war nicht gespielt, er war echt. »Ich könnte dich alleinlassen, und du würdest innerhalb eines Tages verhungern. Du weißt nicht, wie man sie aufspießt; du weißt nicht einmal, wie man sie zum Braten rupft. Weißt du's?« Sie weigerte sich, von der bebenden Furcht in seinem Gesicht angerührt zu sein. »Weißt du's?«
Kadura war Khira den Weg hinauf gefolgt, groß und stumm in ihrem dunklen Umhang. Jetzt sprach sie. »Beschimpfst du deinen Freund immer, Khira?«
Khira wirbelte herum, zornig über den Tadel. »Er ist nicht mein Freund!« Sie haschte nach dem Band mit Hühnern, der Lenkende sprang zurück und ließ sie fallen. »Ich werde sie selbst rupfen«, sagte sie und warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Vielleicht macht jemand in der Zeit Feuer, während ich sie zum Braten vorbereite. Wenn jemand hier weiß, wie man das macht.« Sie stolzierte davon und ließ den Lenkenden stehen. Er starrte mit leeren Händen zu Kadura hinauf.
Khira rupfte wütend die Hühner und war sich kaum bewußt, daß der Lenkende fortgeschlüpft war, um Moos und Zweige fürs Feuer zu sammeln. Nach einer Weile half Kadura Khira; Khira fühlte sich unbehaglich in ihrer stummen Gegenwart. Wie mochte sie über sie urteilen? Streng? Khiras Ärger wurde bitter in ihrem Mund. Sie schaute kurz Kadura auf und erwartete weiteren Tadel wegen ihres Temperamentes. Aber Kadura blickte sie aus verschatteten Augen an und sagte nur: »Du hast auch einen Verlust erlitten, seit ich dich das letzte Mal sah, Khira.«
Für einen Moment
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