Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
Ängsten gehörte, daß sie verletzt werden könnte. Eine andere Angst wurde, daß sie ihn aufgeben würde. Und war das so verschieden von ihrer eigenen Angst, daß Dunkeljunge sie verlassen würde?
Sie untersuchte den Gedanken nur ein einziges Mal, und ihr wurde so unbehaglich zumute, daß sie ihn aus ihrem Verstand verbannte.
Am Ende des zehnten Tages – die scharlachrote Sonne stand an einem violetten Himmel – erreichten sie endlich einen Felssturz, der die Ebene weit überblickte. Roter Fels und vom Winter arg mitgenommenes Gras streckten sich unter ihnen aus, unterbrochen von verkrüppelten Bäumen und Büschen mit kahlen Zweigen. Die Sonne schien so riesig, als könnte sie die Ebene verspeisen. Dennoch war die Luft bitterkalt.
Khira blickte schweigend und bewegt über die Ebene. Die Rotmähnen-Wächterinnen, die ihre entferntesten Stammmütter gewesen waren, waren vor Jahrhunderten über diese finsteren Felsen und an den verwüsteten Bäumen patrouilliert, hatten auf Züchter gelauert, die sich anschlichen, um Rotmähnen zu stehlen. Sie patrouillierten noch immer, stumm in ihren dunkelbraunen Umhängen; nicht weil sich in diesen Tagen häufig Züchter näherten, sondern weil die Wächterinnen Menschen der Ebene geworden waren. Und jetzt würde Khira für einen Sommer eine Tochter der Ebene sein, mit den Töchtern der Wächterinnen Bäche durchwaten und sich an die Rücken der Rotmähnenfohlen klammern.
Dunkeljunge kroch auf die Kante zu und schaute aufmerksam über die Ebene. »Wir werden noch einen Tag gehen müssen, bevor wir die Herden sehen«, sagte Khira und klammerte die Faust um den seltsam geschnitzten Spieß, die sie aus Mingeles Palast mitgebracht hatte. Er drehte sich um, seine Augen glänzten vor Erwartung. »Und die Wächterinnen der Rotmähnen ...«
»Sie werden sich bei ihren Herden aufhalten. Die Pflügeteams werden die Täler für mindestens eine weitere Hand von Tagen nicht verlassen.« Sie starrte über die Ebene. Der Wind auf dem Berg war des Nachts schneidend. In der Ebene würde es genauso unfreundlich sein und weniger Schutz geben. »Wir werden hier für heute nacht Schutz suchen und morgen die Ebene durchqueren. Meine Großmutter und Upala haben ihr Kefri in einem Wächterinnenlager nahe dem nördlichen Rand der Ebene aufgeschlagen. Wir können das Kefri in anderthalb Tagen erreichen.« Es wunderte sie nicht, daß sie plötzlich begierig darauf war, ihre Großmutter wiederzusehen; und Upala, Kaduras Steingefährtin.
Sie wandte sich um und schaute den Berghang hoch. Die Dämmerung warf bereits ihre Schatten hinter den Felsen und machte die Luft grau. Sie kletterten denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, und fanden ein Unterschlupf aus Felsblöcken. »Hier können wir schlafen.«
Dunkeljunge kroch ihr nach, um den felsigen Schlupfwinkel zu begutachten. »Ein Stück den Weg zurück habe ich Anzeichen von Nestern gesehen. Ich werde etwas zum Kochen besorgen.«
»Ja, geh nur.« Er hatte sich in den vergangenen zehn Tagen zum Jäger gemausert. Sie reichte ihm den Spieß, kroch in die Felswölbung und setzte sich hin, den Kopf an den Felsen gelehnt. Wider Willen schlief sie ein.
Als sie erwachte, war der Himmel dunkel. Sie setzte sich auf, vorübergehend desorientiert, und tastete nach ihrem Spieß. Doch Dunkeljunge hatte ihn mitgenommen. Und er war noch nicht zurück. Beunruhigt kroch sie aus ihrem Schutz und sah umher. Nindra bewegte sich tief am Horizont; bernsteinfarben in ein sternengeschmückten Himmel. Khira starrte in die Dunkelheit, konnte aber nur die Schatten des Berghanges und darunter die Finsternis der Ebene unterscheiden.
Doch irgendwo bewegte sich jemand. Sie hörte es und holte Luft. »Dunkeljunge?«
Er antwortete aus der Nähe, flüsternd. »Khira, es kommt jemand.«
Sie drehte sich schnell um und blickte umher, bis sie ihn im Schatten eines Felsblocks entdeckte, wachsam; die Augen schimmernd. Ein Band mit frischgetöteten Braunhühnern hing über seiner Schulter. »Wo?«
»Den Weg von der Ebene herauf – dort.« Er neigte den Kopf.
»Eine Wächterin«, vermutete sie, aber es konnte auch ein abtrünniger Züchter sein, der den Weg für einen Diebestrupp auskundschaftete. Sie glitt vorwärts und blickte den dunklen Berghang hinab.
Nach einer Weile machte sie eine einzelne Gestalt aus, die sich unterhalb des Felsens bewegte, den Kopf gebeugt, die Glieder in den Falten des dunkeln Umhanges verborgen. Als wenn sie durch Khiras starren Blick aufgefordert
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