Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
drinnen ein Feuer von allen Farben. Die Edelsteinmeister schliffen ihn nie. Sie polierten ihn nur, um das Feuer nach außen zu bringen.«
Khira runzelte die Stirn. »Ich habe noch nie einen derartigen Stein gesehen.«
»Weil es sie nicht mehr gibt. Sie waren zerbrechlich und zerfielen. Upala war für mich wie sie; eine ruhige Oberfläche, unter der sich ein Feuer verbarg. Ich mußte tief in sie hineinschauen – und als ich es tat, sah ich das Feuer. Man konnte es nicht berühren; nur ansehen, und das nur, wenn man die Augen nahe daran hielt.«
»Und jetzt ist sie zerfallen«, sagte Dunkeljunge, und Khira blickte scharf zu ihm hin.
Kadura nickte, raffte das Haar zusammen und streifte die Kapuze darüber. Ihr Gesicht zog sich wieder in den Schatten zurück. Ihre Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. »Sie ist zerfallen, aber sie hinterließ mir Erinnerungen, Dunkeljunge. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich meinen Paarungsstein von den Meistern der Edelsteine entgegennahm und ihn mir um den Hals legte. Ich fühlte Upalas Finger an diesem Tag zum ersten Mal in meinem Verstand; aber es schien mir, als hätte ich die ganzen Jahre darauf gewartet – auf ihre kalte Berührung in meinem Kopf.« Ihre Augen musterten Khira, aber sie schienen weit fort zu sein, als sähe sie sich an ihrer Stelle; jünger. »Du wirst die Berührung eines Tages kennenlernen, Khira. Und wenn sie kommt, wirst du erkennen, wie einsam du doch gewesen bist.«
Khira fuhr zusammen, schaute rasch zu Dunkeljunge hin. »Ich bin nicht einsam.«
Seufzend kehrte Kadura aus der Ferne zurück. »Du hast natürlich deinen Freund. Und ich bin eine alte Frau, die ihren Schlaf braucht, bevor wir morgen weiterziehen.«
Eine alte Frau. Khira beobachtete ihre Großmutter, als sie am nächsten Tag die Ebene durchquerten. Ihr Schritt war noch fest, ihre Schultern waren straff. Khira wußte, daß sie nie in der welken, hilflosen Art der Talfrauen alt sein würde. Aber es gab lange Zeiten, da sie blindlings dahinschritt; versunken in Träumereien, sich kaum Khiras und Dunkeljunges bewußt. Und bei Tageslicht schien die Kraft in ihrem Gesicht durch den Verlust vermindert.
Aber wann immer einer von ihnen sie ansprach, machte sie die lange Reise zurück und antwortete aufmerksam. Manchmal schien es Khira, daß sie Dunkeljunge mit einem besonderen Denken betrachtete, während sich der Morgen dahinschleppte; als beurteilte sie ihn mit einem Sinn, den Khira nicht besaß. Und er schien sich ihrer Aufmerksamkeit bewußt und ging schweigend neben ihr her; seine Augen ruhten auf ihrer Schärpe.
Als sie fürs Mittagessen anhielten, sagte Kadura: »Wir dürften heute nachmittag herumstreunende Rotmähnen zu Gesicht bekommen. Bleib nahe bei mir, Junge, bis sie dich annehmen. Die Pflügeteams haben Menschen aus den Tälern gesehen, aber viele der Herdenmähnen haben noch einen männlichen Menschen erblickt.«
Dunkeljunge hatte den Boden betrachtet, zeichnete geistesabwesend mit dem Zeigefinger in der lockeren Erde. Er sah überrascht auf. »Es gibt Männer in der Ebene?«
Für einen Augenblick studierte Kadura die Linien, die er in den Staub gezogen hatte. »Nein. Keine.«
»Aber die Wächterinnen gebären Kinder, hat Khira mir gesagt.«
Kadura lächelte leicht. »Es gibt Männer in den Tälern, Dunkeljunge. Wenn eine Wächterin ein Kind austragen möchte, muß sie für einige Zeit dort leben.«
»Und – wenn das Kind ein Sohn ist?«
Für einen Moment weilte Kaduras Blick mitleidig auf ihm, »Keine Wächterin gebiert jemals ein männliches Kind nach einer normalen Schwangerschaft; ebensowenig wie eine Barohna. Wir haben hier keine Söhne, Dunkeljunge – nur Töchter.« Bedächtig schob Kadura die Kapuze zurück und schüttelte das Haar über die Schultern. »Die Arnimi-Außenweltler sagten uns, daß es menschliche Kulturen gibt, in denen keine Frau sich als vollständig betrachtet, bis sie einen Sohn hat. Hast du jemals von solchen Orten gehört, Dunkeljunge?«
»Ich – ich weiß nicht«, antwortete er verwirrt. Als sie nichts mehr sagte, berührte er die Lippen mit der Zunge; und endlich stieß er hastig hervor: »Ich habe Brüder.«
»Aha.« Kadura strich sich mit den Fingern durchs dunkle Haar, in dem der leichte Wind spielte, und berechnete die Wirkung ihrer Worte. »Aber keine Schwester, Dunkeljunge?«
»Nein.« Leise, zögernd.
»Und doch weißt du vielleicht von Menschen, bei denen Frauen manchmal nur Töchter haben und an Söhne
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