Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
achtzugeben, ihn zum Forschen und Lernen anzutreiben. Doch wie konnte der Lenkende wissen, welche seiner Handlungen Dunkeljunge beschützen würden und welche ihn gefährden, wenn er nicht über den Augenblick und seine eigenen Ängste hinaussehen konnte?
Man hatte ihm erzählt, er wäre kühl und rational, eine Sicherung gegen Dunkeljunges Unbekümmertheit. Wo war dann seine eigene Sicherung?
Er besaß keine. Diesmal hatte sie nur Dunkeljunges Unbekümmertheit gerettet.
In Gedanken verloren, bemerkte der Lenkende nicht, daß Khira mit verengten Augen auf Dunkeljunge sah, ihn wiedererkannte und ihm die Hand hinhielt. Er bemerkte nicht, daß Dunkeljunge und Khira mühsam über die frierende Kruste kletterten. Sie drückten die schweren Palasttüren auf und betraten einen Eingangsflur, der von lange nicht geschnittenen Stengellampen hell erleuchtet war. Der Geruch des Winters hing schwer in dem verlassenen Palast. In den langen Fluren lag tief der Staub. Irgendwo quiekte ein kleines Tier und floh.
Das hätte er sein können, winselnd, rennend, weinend. Tiahna hatte Khira gesagt, sie solle Dunkeljunge für die Wärmezeiten zu den Rotmähnen-Wächterinnen mitnehmen, doch der Lenkende wünschte sich nur, daß er sich an einen dunklen Ort zurückziehen und verstecken konnte.
Aber, wo Dunkeljunge hinging, mußte auch er hingehen. Welchen Gefahren Dunkeljunge auch gegenübertrat, er mußte ihnen ins Gesicht sehen. Und ohne den Lohn, den Dunkeljunge bekäme: Khiras Hand in seiner zu spüren und die Wärme ihres Lächelns. Sie waren zusammen. Er war allein.
12 Khira
Von Mingeles Tal aus wanderten sie zehn Tage lang durch schneestarrende Berge und dampfende Täler. Manchmal hörten sie in der Entfernung Felsrutsche und zuweilen den scharfen Knall von Donner. Scheue Berggeschöpfe eilt über ihren Weg, und wiederholt bemerkten sie Anzeichen von Räubern. Während dieser zehn Tage gab es viele Stunden, die Khira genoß; Stunden, in denen sie Dunkeljung ihre Welt zeigte und sie durch seine Augen neu sah. Er besaß eine ausgeprägte Neugier. Er wollte jedes Zeichen im Schnee lesen, wollte jeden losen Stein und jeden Zweig anfassen. Khira war nachsichtig mit ihm. Sie hatten es nicht eilig, die Ebene zu erreichen.
Doch eingebettet in die guten Stunden lagen die anderen, wenn Dunkeljunge kaum den Weg vor den Füßen zu erkennen schien. Zeiten, da seine Augen nach innen blickte Zeiten, in denen ihn verletzte, was er erblickte. Besonders morgens war er sehr in sich zurückgezogen; wenn er erwacht war – aus welchen Träumen?
Sie fragte sich zuweilen, was er träumen mochte, während sie über einem schnell entzündeten Feuer hockte und ein Frühstück aus verschiedenen Zutaten zauberte, die sie ihrem Packen entnahm. Allzuoft half ihr Dunkeljunge schweigend, die Augen abgewandt, sich kaum ihrer Gegenwart bewußt.
Und manchmal, wenn ihn etwas besonders beunruhigt hatte, bemerkte sie, daß sie dem Lenkenden das Essen servierte statt Dunkeljunge. Der Lenkende war nicht zu verwechseln, einmal hob er die Augen und sah sie an. Sein Blick war ausweichend, erschreckt; aber dennoch, auf irgendeine Art bittend. Sie hätte davon gerührt sein können – wenn sie seine Anwesenheit nur nicht zuerst spröde und kalt, dann heiß und zornig gemacht hätte. Sie konnte ihn nie anschauen, ohne sich an ihren Traum zu erinnern: Dunkeljunge, schwerfällig auf dem steilen Weg, schreiend, fallend; dann, bevor sie ihn erreichen konnte, ging ein merkwürdiger Schatten von ihm aus, erhob sich vom Boden; und als der Schatten fortging, erhob sich ein zweiter, um dem ersten zu folgen.
Wie konnte er zwei sein und zu anderen Zeiten völlig eins? Und der andere, der Lenkende, wer war er, außer einem Geschöpf der Benderzic? Dunkeljunge teilte seinen Körper mit einem Wesen, das dem Material seiner Ausbeuter entstammte. Und das mußte ihn auf vielfältige Weise demütigen; es konnte so weit kommen, daß es ihn von ihr entfernte.
Er war zwei, und sie durfte nicht zulassen, daß der eine sie durch seinen flehenden Blick für sich gewann. Sie mußte ihn durch Schweigen und Verachtung zum Verschwinden bringen.
Schweigen und Verachtung. Sie arbeitete sie bis zur Vollkommenheit aus, als sie durch die Berge wanderten. Sie lernte, wann Schweigen den Lenkenden davontrieb, und sie lernte, wann es die Verachtung tat. Sie lernte sogar, welche seiner Ängste die größten waren, und spielte mit ihnen. Sie schämte sich dessen nicht, bis es eines Tages zu seinen
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