Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
Menschen, um sie zu kennen. Wirklich sehr wenige. Oft genug brauche ich überkaupt keine Worte.«
Khira blickte auf Kadura, plötzlich erschrocken über die Gelassenheit, die jetzt in dem gefurchten Gesicht zu sehen war. Große Kälte ergriff sie. »Du hast gelernt, in die Köpfe der Leute zu schauen«, sagte sie niedergeschlagen. Es gab Gerüchte unter den Leuten, daß gewisse Barohnas, die ihre Steine verlassen hatten, diese Fähigkeit anwenden konnten. Khira hatte dem Gerücht nie Glauben geschenkt.
Kadura zog die Kapuze ihres Umhangs hoch und beschattete das Gesicht vor Khira. »Du könntest es so nennen, Enkelin. Ich denke, daß ich Brücken schlagen kann – von der Einsamkeit meines Verstandes zur Einsamkeit eines anderen. Als Upala und ich nicht länger eine der anderen Verstand durch die Paarungssteine betreten konnten, mußten wir uns auf andere Art und Weise verständigen. Da wir einander so gut kannten, fiel es uns leicht, kleine Zeichen im anderen zu lesen: eine Neigung des Kopfes, ein flüchtiges Stirnrunzeln, irgendeine kleine Geste. Wir lernten, beides zu lesen; die Gedanken und die Gefühle dahinter. Bald hatten wir es kaum noch nötig, miteinander zu reden.
Später erfuhren wir, daß andere mit uns die wortlose Sprache teilten. Wir lernten zu lesen, was sie uns mit ihren Körpern sagten, und wir lernten zu lesen, was Zeit und Erfahrung in ihren Gesichtern aufgezeichnet hatten. Vielleicht lesen wir auch weit mehr als das; es fällt mir schwer, Grenzen zwischen mir und den anderen zu ziehen und dann abzuschätzen, wie weit ich hinter diese Bereiche eingedrungen bin.
Wenn du das mit ›in die Köpfe der Leute schauen‹ meinst, dann tue ich es. Ich kann es nicht ändern, ebensowenig wie du es ändern kannst, die Spuren eines Breeterlik im Schnee zu sehen oder die Sturmwolken im Himmel. Es wurde so selbstverständlich, daß ich kaum noch merke, wenn ich es tue.«
Khira stand angespannt, wütend über Kaduras Enthüllungen. Als Dunkeljunge aufblickte, schnappte sie: »Wie gefällt es dir, wie eine Schriftrolle gelesen zu werden? Wie gefällt dir die Fähigkeit meiner Großmutter, aus deinem Gesicht zu lesen, was in deinem Verstand vorgeht?«
Dunkeljunge runzelte leicht beunruhigt die Stirn. »Stört es dich?«
»Frag mich nicht aus! Ich möchte wissen, wie
du
dich fühlst!«
Er blickte heimlich kurz auf Kadura und seufzte. »Ich habe nichts dagegen.«
Sie sah, daß er nicht nur nichts dagegen hatte. Es tat ihm gut; es gefiel ihm, daß Kadura in ihn hineinsah und zu dem sprach, was sich dort befand. Langsam sank Khira neben das Feuer zurück. Wenn er beruhigt war, warum sollte sie wütend sein? Weil sie nicht so vertraut mit seinem Verstand umgehen konnte, wie Kadura es tat? Weil sie aus der Gemeinschaft der beiden ausgeschlossen war? Oder weil sie es nicht zulassen wollte, daß Kadura sie so deutlich wie Dunkeljunge lesen konnte?
Nein, sie wollte niemandem ihre Gedanken offenbaren; schon deshalb nicht, weil sie so unbedeutend waren. Es gab keine Ordnung in ihren Gedanken und keine Klarheit. Sie waren gefärbt von Ärger und Eifersüchteleien, die sie vor sich selber verstecken wollte, soweit es überhaupt möglich war.
Sie biß sich auf die Lippe und schaute auf in Kaduras beschattete Augen. Nicht genug, daß ihre Gedanken mit Nebensächlichkeiten angefüllt waren. Sie hatte äußerst grob mit Kadura gesprochen; mißtrauisch, herausfordernd; praktisch alles außer direkt anklagend. Und Kadura hatte auf alles geduldig geantwortet. »Großmutter ...«, begann sie bittend. Kadura hatte ihr einiges zu vergeben. Wenn sie ihr wenigstens einen Teil davon vergäbe ...
»Ich vergebe der Jugend immer, Khira«, sagte Kadura aus dem Schatten ihrer Kapuze. »In deinem Alter war ich fast ebenso – voller Energien und Bedürfnisse, und wie habe ich über Nichtigkeiten nachgegrübelt! Mit den Jahren nehmen allmählich andere Dinge deren Platz ein. Das ist die natürliche Ordnung des Lebens. Das Alter kommt nie vor der Jugend.«
Aber mußte die Jugend so rücksichtslos sein? So grob?
»Nein«, sagte Kadura. »Die Jugend ist eine Zeit zu lernen, nicht rücksichtslos zu sein. Im Geist zu wachsen, wie du im Körper wächst. Und wenn du dich entwickeln möchtest, kannst du bei deinem Freund anfangen.«
»Bei Dunkeljunge?«
Kadura schüttelte langsam den Kopf. »Bei dem anderen; bei dem, den du verachtest. Oder von dem du annimmst, daß du ihn verachtest. Du hast auch für ihn Freundlichkeit bereit. Du kannst
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