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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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meiste Zeit verwendete ich dazu, durch Brakrath zu streifen und mich mit dieser Welt zu messen – doch niemals habe ich das von ihr erhalten, was ich wollte, denn ich wollte das Falsche.
    Du wurdest im zweiten der vier Jahre geboren, die wir zusammen waren. Nach deiner Geburt gab mir Lihwa den Paarungsstein und ließ mich immer eines ihrer Armbänder tragen, wenn ich fortging; sie dachte, sie würden mich wieder zu ihr zurückbringen. Es ist für eine Barohna nicht üblich, einen Gefährten über eine Saison hinaus zu behalten. Aber wir besaßen etwas, das sich von dem unterschied, was die meisten Barohnas mit ihren Gefährten verband. Eine ständige Verbindung, keine vorübergehende Liaison. Ich wünschte, ich hätte die Bindung mehr gewürdigt, doch ich wußte nicht wie.
    Sie trug das zweite Armband. Es reichte für ihren Bedarf aus. Sie konnte in einem einzigen Armband genug Sonnenlicht speichern, um all das zu tun, was sie tun mußte.
    Es war im Spätwinter unseres vierten Jahres. Ich hatte Ranslega im Jahr davor gezeichnet, im Wald, und in diesem Winter kehrte ich mit ihm in die Berge zurück. Lihwa hatte dich bei sich behalten, und wir drei verbrachten mehrere Hände von Tagen im Winterpalast. Ich war nicht mehr so unruhig wie sonst. Es war für uns alle eine gute Zeit, denke ich. Ich erinnere mich, daß ich meinen Bruder lahn – Daniors Vater – damals darum beneidete, daß er niemals hin und her gerissen schien zwischen dem Wunsch, zu gehen und dem Verlangen, zu bleiben. Aber natürlich unterschieden sich die Erfahrungen, die er gemacht hatte, bevor er nach Brakrath kam, stark von meinen.
    Dann, eines Morgens, sahen wir den Feuertopf auf der Plaza des Palastes brennen; er signalisierte, daß die Menschen aus dem Winterschlaf erwacht waren. Es war Zeit für Lihwa, wegen der Frühlingsschmelze hinabzusteigen.
    Am Abend wanderten wir zusammen bis zu Misanas Sturz, das ist ein felsiger Aussichtspunkt, der ungefähr auf dem zweiten Drittel des Weges ins Tal hinab lag. Von dort aus wanderte Lihwa allein weiter, und sie ließ ihr Armband aufleuchten, damit die Leute im Tal sehen konnten, daß sie kam. Der Frühlingsbeginn ist eines der größten Feste im Tal. Jedermann versammelt sich auf der Plaza. Eltern laden sich ihre Kinder auf die Schultern, damit sie die Barohna sehen können, wenn sie den Berg herunterkommt und ihre Armbänder leuchten. Dann wissen sie, daß die lange, kalte Zeit ein Ende hat.
    Ich wartete mit dir auf dem Sturz. Die Menschen warteten auf der Plaza. Die Sonne ging unter, und Lihwa wanderte durch die Dunkelheit, ihr Armband strahlte; strahlte so hell, daß sie im Zentrum der Sonne zu wandern schien. Vielleicht ist es das, an was du dich erinnerst – wie deine Mutter an diesem Tag den Berg hinabwanderte.«
    Keva dachte angestrengt nach, versuchte sich völlig auf das Bild zu konzentrieren. Eine Gestalt, die sich gegen das Feuer abhob, der Berg – aber da war mehr. Sie erinnerte sich an ein knackendes, grollendes Geräusch, eine Erschütterung. Und Angst. Erinnerte sie sich an Angst?
    »Ich ... ich weiß nicht«, sagte sie; ihre Muskeln spannten sich. In der Vorahnung dessen, was ihr Vater ihr als nächstes sagen würde? Oder wegen der Erinnerung?
    Jhaviir nickte und setzte sich auf seinem Kissen zurück, er schien sich in die Zeit zurückzuziehen. »Ich erinnere mich an jede Einzelheit. An die Beschaffenheit der Steine unter meinen Stiefeln. An das Mondlicht, das auf dem Schnee schimmerte. An Ranslegas Unruhe. Vielleicht fühlte er, was geschehen würde. Die Berge, die die kultivierten Täler umgaben, waren stabil. Es kam gelegentlich zu Felsrutschen, aber nicht oft. Schneerutsche kamen häufiger vor, besonders in dieser Jahreszeit. Während wir vom Sturz aus zuschauten, begann sich von der Bergspitze her eine Schneemasse zu bewegen. Sie fegte östlich an uns vorbei. Sie fegte direkt auf Lihwa zu.«
    Keva zog sich zurück, ihre Erinnerung nahm Gestalt an. Der Boden, der unter den Füßen erzitterte. Ein Gefühl, daß die Dunkelheit des Berges sich mitten entzwei riß; daß sie hinabgetragen würde. Und Angst - ja, schneidend, atemlos.
    »Sie hatte nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um zu erkennen, was geschehen war, und zu entscheiden, was sie tun mußte. Nur den Bruchteil einer Sekunde, um nach Alternativen zu suchen und sie abzuwägen. Um zu erkennen, daß sie genug Energie in ihrem Armband gespeichert hatte, um den Schnee in Dampf zu verwandeln. Ihn zu verdampfen - und die Menschen,

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