Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
»Ich begreife nicht, wie jemand die Sonne in einem Stein einfangen kann.«
Jhaviir nickte. Er griff in die grünenden Beete hinter sich und brach ein einzelnes Kletterpflanzenblatt ab. Er legte es in ihre Hand. »Sag mir, wie diese Pflanze Sonnenlicht und Wasser aufnimmt und beides in ein grünes Pflanzengewebe verwandelt. Sag mir, wie Lihwa und ich in unseren Räumen nach dem Mittsommerfest miteinander tanzten und lachten, und hier sitzt du, sechzehn Jahre später, eine selbständige Person. Von uns getrennt, obwohl es dich nicht gäbe, wenn wir in dieser Nacht nicht zusammengekommen wären.«
»Ich weiß es nicht«, gab Keva zu. Sie konnte beides nicht erklären.
»Ich weiß es auch nicht. Aber es gibt Ordnungen des Lebens und Regeln, die seinen Verlauf bestimmen - und ebenso ist es mit den Vorgängen in den Steinen. Irgendwann werden wir es begreifen. Daß wir es jetzt noch nicht verstehen, bedeutet nicht, daß die Regeln nicht existieren. Daß wir sie nicht erforschen könnten, um uns die Vorgänge zunutze zu machen.«
Danior schüttelte seine Müdigkeit ab. »Du mußt üben«, sagte er. »Du mußt etwas über die Steine lernen. Du mußt sie benutzen. Wenn du das nicht tust, wirst du - nichts lernen.«
Keva nickte, sie erinnerte sich daran, wie sie die Steine, die sie auf Rezni geschleudert hatte, wieder zurückgerufen hatte, ohne zu wissen wie. Wie sie es später fertiggebracht hatte, den Sandsturm unter ihre Kontrolle zu bringen.
Doch sie hatte ihn zu spät unter Kontrolle gebracht. Die Gothnis waren tot.
Und Danior - er hatte letzte Nacht den Gedanken-Stein benutzt. Was hatte er ihn gelehrt? Wie sich die Angst anfühlte, wenn sie durch den Körper eines anderen Mannes jagt? Ein Schatten von dem, was er gelernt hatte, war noch in seinen Augen zu finden. Sie runzelte die Stirn, während sie sich an Tednis Scheu, seine Sorge erinnerte.
»Der Mann, der den anderen Stein trug ...«, sagte sie lebhaft.
Daniors Lippen verzerrten sich. Er weigerte sich, ihrem Blick zu begegnen. »Er - starb.«
Eine kalte Hand schloß sich um ihr Herz. Er war gestorben, während Danior den Stein umklammerte, der sie miteinander verband. Und es hätte nicht geschehen müssen. Wenn sie nicht hierher gekommen wäre ...
Doch es war die Wahl der Yarika gewesen, sich nicht dem Größeren Clan anzuschließen. Ihre Wahl, nach den alten Bräuchen zu leben. Ihre Wahl, bei der Attacke auf die Leute ihres Vaters mitzumachen.
Keva biß sich auf die Lippe, ihre Gedanken irrten in jede Richtung. Bliebe sie hier, würden andere Menschen genauso wie die Yarika sterben, und aus demselben Grund. Weil sie glaubten – was nicht stimmte –, daß sie von ihrem Land vertrieben und ausgelöscht würden, wenn sie den Größeren Clan nicht zerstörten.
Aber wenn sie nicht hierbliebe, wenn sie fortginge, und die Kleinen Clans erfuhren davon, daß sich in Pan-Vi keine Barohna mehr aufhielt ...
»Wenn ich gehe«, fragte sie zögernd, »was werden die Kleinen Clans dann unternehmen?«
Ihr Vater runzelte die Stirn und streichelte geistesabwesend das Feuerarmband. »Keva, die Kleinen Clans haben uns von Anfang an schwer zugesetzt. Sie haben Frauen entführt, Waren gestohlen, sie haben unsere
han-taus
zerstört - sie haben unsere Kinder getötet. Wenn du bleibst, werden sie sich bestimmt gegen uns verbünden. Bald, nehme ich an – vielleicht schon sehr bald –, in der Hoffnung, uns und dich zu vernichten, bevor wir noch stärker werden.«
»Aber wenn ich fortgehe ...«
»Dann werden sie uns ebenfalls bedrängen. Ich weiß nicht, wie schnell und wie schwer. Aber sie werden uns bedrängen. Sie haben es immer getan.«
Keva berührte besorgt ihre Schläfen, versuchte ein wenig Ordnung in das Durcheinander ihrer Gedanken zu bringen. Ihre Entscheidung, den Warmstrom zu verlassen und ihren Vater zu suchen, war einfach gewesen. Ihr nächtlicher Entschluß, die Wüste zu verlassen, war gleichermaßen einfach gewesen. Nun war alles so kompliziert geworden, daß sie nicht wußte, ob sie sich damit auseinandersetzen konnte.
»Danior – was willst du tun?« Ihr wurde zum erstenmal klar, daß sie seltsamerweise nicht einmal wußte, weshalb er in die Wüste gekommen war. Sie hatte seine Gegenwart, seine Gesellschaft ohne Fragen akzeptiert. Nicht einmal erstaunt.
Er streichelte den Gedanken-Stein mit der Fingerspitze und wickelte dann vorsichtig die Kette um ihn, schuf so ein Nest aus Metallgliedern. »Ich weiß es nicht«, sagte er. Er sah
sie an und zuckte
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