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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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die auf der Plaza warteten, zu verbrennen. Die Lawine war so gewaltig und hatte Lihwa zu nah am Fuße des Berges erreicht, daß die Menschen keine Zeit zur Flucht mehr hatten. Und auch keinen Platz, zu dem sie flüchten konnten.
    Damals habe ich all das noch nicht erkannt. Ich begriff es erst später, als ich Zeit hatte, darüber nachzudenken. Damals, als ich die Lawine hörte, schaute ich hoch und sah das Mondlicht auf den heranrollenden Schneemassen; ich blickte hinab und sah Lihwa heraufstarren. Sie war zu weit von mir entfernt, ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Doch ich erkannte, was sie tat. Sie zog ihr Armband ab und schleuderte es von sich. Und dann fegte der Schnee herab und zerschmetterte sie. Sie muß sofort tot gewesen sein.«
    »Sie ...« Keva sah die Szene so deutlich vor sich, daß es ihr fast den Atem raubte. Der Schnee, der den Berghang hinabdonnerte; die einsame Gestalt; die schwindende Helle des Feuerarmbandes. Ein Traum ... Erinnerung … Wirklichkeit. Etwas zog ihre Brust zusammen, ließ Tränen in ihrer Kehle aufsteigen.
    »Sie schleuderte es von sich, wollte es nicht benutzen«, flüsterte sie.
    »Ja. Sie hatte Angst davor, sich im letzten Augenblick zu vergessen, wenn sie es behielte. Ihre Selbstbeherrschung zu verlieren, an der sie vier Jahre lang gearbeitet hatte, und sich selber zu retten.«
    Und die Menschen zu verbrennen, die auf der Plaza standen. Keva preßte ihre zitternden Finger gegen die Schläfen und wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt sprechen konnte.
    Ihr Vater setzte sich aufrecht hin und warf ihr einen abschätzenden Blick zu. »Weißt du, am Abend, als du hier eingetroffen bist, um mich zu sehen, da hoffte ich, von dir zu hören, daß du auch gekommen bist, um nach deiner Mutter zu schauen. Ich bin traurig, daß es nicht so war.«
    Keva starrte auf die Oberfläche des Tisches; sie war auch traurig. Traurig darüber, daß sie so bestrebt gewesen war, sich von der Person, die ihre Mutter ihrer Befürchtung nach gewesen war, zu distanzieren; sie war so ängstlich vor dem gewesen, was sie vielleicht erfahren würde, daß sie sich nicht getraut hatte, jemanden zu fragen - Tehla, Danior oder ihren Vater -, wie ihre Mutter wirklich gewesen war. Eine Frau, die durch das Feuer herrschte, oder ein Mädchen, eben ein paar Jahre älter als sie, mit Pflichten, die sie sich noch nie vergegenwärtigt hatte. Sie schaute das Feuerarmband an Daniors Arm an und versuchte zu akzeptieren, was sie erfahren hatte; sie versuchte die Tatsachen zu akzeptieren, ohne Schuldgefühl, daß sie nicht schon früher danach gefragt hatte.
    Doch das Wissen, wer ihre Mutter gewesen und wie sie gestorben war, änderte nichts an dem, was geschehen war, seitdem sie in die Wüste gekommen war. Zögernd wandten sich ihre Gedanken wieder den Gothnis zu. »Die Männer, die ich getötet habe ...«
    »Du hättest sie auf andere Art vertreiben können. Aber du wußtest ja nicht wie. Und du hattest niemanden, der dich anleitete.« Er griff über den Tisch und zog Danior das Feuerarmband vom Handgelenk. Er spielte damit, seine dunklen Finger strichen über die geschliffene Oberfläche. »Der Mann, der dieses Armband für deine Mutter arbeitete, war der beste Edelsteinmeister, den es auf Brakrath gab. Als er es ihr präsentierte, sagte er zu ihr, daß es ein Werkzeug wäre, einfach nur ein Werkzeug. Eines, dessen Benutzung sie lernen müßte; so wie er gelernt hatte, seine Steinschneidewerkzeuge zu gebrauchen. Sie mußte lernen, wozu es fähig war; mußte lernen, sich in seinem Gebrauch selbst zu beherrschen; wie man es benutzte, ohne die Menschen, die sie umgaben, zu verletzen.
    Alle Fähigkeiten der Steine sind von dieser Art. Sie sind Werkzeuge, und du mußt lernen, sie zu gebrauchen. Aber du hattest keine Möglichkeit zu lernen, bevor die Gothnis kamen. Du hast dich plötzlich mit einer Fähigkeit begabt gefunden, von der du nicht wußtest, daß sie in dir steckte. Eine Fähigkeit, die du niemals bei anderen erlebt oder erfahren hattest. Er ist nicht erstaunlich, daß du sie nicht so gebraucht hast, wie es angebracht gewesen wäre.«
    Keva seufzte und schaute widerwillig auf das Armband. Würde sie sich jemals wieder getrauen, es anzufassen? Jemals wagen, mit Vorsatz die Sonne hineinzuziehen? Jemals den Versuch unternehmen können, seinen Gebrauch und die anderen Fähigkeiten der Steine zu beherrschen?
    »Ich weiß nicht einmal, wie die Steine arbeiten«, sagte sie.

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