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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich dachte daran hierzubleiben. Aber jetzt muß ich noch einmal darüber nachdenken. Gestern nacht ...«
    Gestern nacht war er älter geworden. Gestern nacht war er im Verstand eines anderen Mannes gestorben. Sie saßen eine Weile, ohne zu sprechen. Aus den anderen Zimmern des
han-tau
klangen Kinderstimmen herüber; es roch nach Essen. Hinter den Glasscheiben beschrieb die Sonne langsam einen Bogen. Als sie aufblickte, stellte Keva fest, daß die feinen Linien um die Augen ihres Vaters jetzt tiefer schienen, als sie es vor ein paar Minuten noch gewesen waren. Als dächte er über eine strengere Härte nach, als sie ihm je zuvor untergekommen war. Er runzelte die Stirn und rieb sich den Nacken.
    Dann kehrte er die Innenseite seiner Hand nach oben und schlug damit einmal auf den Tisch; eine Geste, die fast wie ein Zeremoniell aussah. »Keva, wir haben hier eine feste Einrichtung, die wir
tarnitse
nennen. Ich werde nicht einmal versuchen, es dir zu übersetzen. Ich brachte sie von den Kri-Nostri mit. Wenn eine Entscheidung zu treffen ist, ein neues Projekt angefangen werden soll und unsere Gedanken zu verwirrt sind, dann gehen wir zum
tarnitse,
um die Fäden wieder zusammenzubinden.«
    Etwas, was ihr dabei helfen könnte, ihre verwirrten Gedanken in Ordnung zu bringen, damit sie sich mit dem beschäftigen konnte, was sie erfahren hatte? War es ein Ritus oder ein Ort? »Wohin müssen wir gehen? Kann man es hier in Pan-Vi – machen?«
    »Nein, wir haben unsere
tarnitse-Hütte
weiter im Süden gebaut, über einer Quelle. Wir gehen dorthin und fasten
    und schweigen. Die einzige Stimme, der es erlaubt ist, in der Hütte zu sprechen, ist die Stimme des Wassers. Nach einer Weile, wenn du gut genug hinhörst, kann dir das
tarnitse-
Wasser Dinge erzählen, die du sonst nie ahntest.«
    Keva fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und dachte an die Zeiten, als sie jung gewesen war, als sie zum Ufer des Warmstroms gegangen war, um nachzudenken. Jetzt mußte sie auf jeden Fall nachdenken. Sie mußte die Verwirrung mit dem fließenden Wasser fortspülen.
    »Ich würde gerne dorthin gehen«, sagte sie.
    Danior regte sich und nahm seinen Paarungsstein vom Tisch. Mit einer entschlossenen Geste legte er sich die Kette um den Hals. Der glühende Stein schmiegte sich an seine Kehle. »Ich würde gerne mitgehen.«
    »Natürlich. Die traditionelle Zeit, um eine solche Reise zu beginnen, ist zwei Stunden nach Tagesanbruch. Für heute ist es bereits zu spät, aber Tedni wird sich geehrt fühlen, euch morgen dorthin zu begleiten. Er wird wissen, was ihr benötigt, und es schon einpacken.« Er rieb sich müde durchs Gesicht. »Und jetzt brauchen wir alle etwas Schlaf, denke ich. Danior?«
    Danior nickte und stand auf. Auch Keva erhob sich, ihre schmerzenden Muskeln verrieten ihr, wie wenig sie in der letzten Nacht geschlafen hatte und wie müde sie war. Sie gab ihrem Vater die Hand und suchte sich den Weg zu ihrem Zimmer, wo Tinata schlief. Ihr Kopf quoll über vor Bildern – von fliegendem Sand, donnernden Schneemassen, von einer Frau, die mit ausgestreckten Armen vor einem Fenster stand – die zurückzureichen schienen, damit Keva sich ihrer erinnerte. Doch sie hatte sich lieber Mühe gegeben, sie zu vergessen, als sich an sie zu erinnern. Tränen traten ihr in die Augen, sie fand ein Kissen, rollte sich darauf zusammen und hoffte, daß ihr Schlaf traumlos bliebe.
     

14 Danior
    Danior bewegte sich im Schlaf, er versuchte die Augen gegen die Sonne abzuschirmen, die vom Sand her aufblitzte. Als er weiter vorkroch, die Faust so gewaltsam um den Messergriff geschlossen, daß die Fingerknöchel schmerzten, bewegte sich das Kissen, auf dem er schlief, in Richtung seines Bauches.
    Nein.
Seine Finger waren um den Paarungsstein geschlossen, den er im Schlaf umklammert hatte. Die Finger eines anderen schmerzten. Eines anderen, der zwar kaum älter als er, aber sehniger und härter war; ein anderer, dessen Gedanken er so klar wie seine eigenen empfing, obgleich sie nicht dieselbe Sprache sprachen. Sein Name war Garrid, und Tapferkeit und Neugierde trieben ihn auf dem Bauch kriechend vorwärts.
    Er wollte fortlaufen. Wollte die Yarika und ihre starren toten Augen hinter sich lassen. Besorgt hob er den Kopf und schaute dorthin zurück, wo die ausgestreckten Körper lagen. Blut schwärzte den Sand. Seine Kehle schnürte sich zusammen, als die Furcht in ihm aufstieg. Aber er war diesen Weg nicht so weit

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