Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Hoffnung, die Nähe von etwas Vertrautem würde sie beruhigen. Und sie erinnerte sich daran, daß sie keine Ruhe gefunden hatte. Rasch drängte sie den letzten Rest des Schlafs beiseite. »Du bist verletzt.«
»Ich habe ein paar Schnitte abgekriegt. Einige Quetschungen. Wir hatten einen schweren Kampf.«
Er sprach sehr ernst, und sie stellte fast widerstrebend fest, daß der Fleck in seinen Augen nicht Blut, sondern Leid war. »Hast du viele vom Größeren Clan verloren?« Menschen, die sie gestern beim Clan-Ruf noch gesehen hatte, schreiend und triumphierend – wie viele von ihnen waren jetzt tot?
»Ein paar. Die meisten der Toten waren Yarika.«
Ja; denn die Yarika waren in der Erwartung gekommen, hier zu sterben; entweder schnell durch das Messer oder den Speer, oder langsam, indem man sie von ihrem Weideland vertrieb. Keva ballte die Hände zu Fäusten. Sie wandte sich um und holte tief Luft, versuchte, darin Kraft zu finden. »Ich gehe fort«, sagte sie – rasch, denn ihm das zu sagen, war das Schwerste, was sie sich vorstellen konnte. Alles andere würde leicht sein. Schmerzlos.
Er sank nieder auf die Fersen, seine Brauen zogen sich erstaunt zusammen. »Nein!« Der Protest schien automatisch gekommen zu sein; etwas, was ihm trotz besseren Wissens entschlüpft war.
Und das machte es ihr noch schwerer fortzugehen. »Doch. Ich kam hierher, um dich zu suchen. Um herauszufinden, ob du noch lebst, und um dir zu sagen, daß ich lebe. Um dir zu sagen, daß Oki gelogen hat. Und nun wissen wir es – beide – und ich muß fort. Wenn ich bleibe ...« Sie schüttelte den Kopf, sie wollte nicht weinen; sie wollte nicht, daß er ihre Wut sah, ihre Angst, ihre Verwirrung.
Er legte beruhigend die Hand auf ihren Arm, doch bevor er etwas sagen konnte, flogen Tinatas runde Augen auf. Sie setzte sich schwer atmend auf und wischte sich den Staub ab. Dann griff sie hastig nach ihrem Messer und sprach mit rascher, bittender Stimme zu Jhaviir.
Er nickte ihr besänftigend zu. »Bitte – sie möchte, daß ich dir sage, wie sehr sie sich schämt, daß sie dich so schlecht beschützt hat«, erklärte er. »Sie hätte nie einschlafen dürfen, und es käme nicht wieder vor. Ihr Messer wird dich selbst noch in den Nachtstunden beschützen. Sie ...«
»Oh, bitte – sag ihr, niemand sonst hätte mich so gut beschützt«, protestierte Keva und fragte sich schuldbewußt, wielange Tinata wohl unbequem zusammengerollt auf dem Boden geschlafen hatte. »Sie braucht Schlaf.«
»Sie braucht ein Bad, Essen und Schlaf, all das«, stimmte er sofort zu. »Und sie wird ohne dich nichts davon tun. komm zurück zum
han-tau
und laß uns die Wanne füllen. Ihr könnt beide baden. Danach können wir zwei ungestört miteinander reden.«
Keva wollte Einwände hervorbringen. Aber ihr Vater half ihr bereits auf die Füße und klopfte ihre Kleider ab. Tinatas Finger waren blau vor Kälte. Und es hatten sich bereits Menschen versammelt; Männer mit bandagierten Armen und Frauen mit Speeren und traurigen Gesichtern. Dies war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, um sich zu unterhalten.
Sie hielt ihre Zunge im Zaum, während sie mit Tinata badete; während sie aßen – in Ruhe, am Tisch der Frauen – und Tinata überredet wurde, sich hinzulegen. Danach ging sie in das Zimmer, in dem sie am Abend ihrer Ankunft gegessen hatte. Danior saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem Kissen, der Gedanken-Stein lag vor ihm auf dem Tisch, das Feuerarmband trug er am Handgelenk. Keva zögerte kurz, dann setzte sie sich neben ihn; es überraschte sie zu sehen, wie alt er aussah. Um Jahre älter als der Jugendliche, den sie eben vor ein paar Tagen am Unterrichtsteich getroffen hatte; sein Gesicht war aschfahl, ein gequältes Runzeln meißelte Falten zwischen seine Augenbrauen.
Ihr Vater gesellte sich bald darauf zu ihnen und nahm ihnen gegenüber auf einem Kissen Platz. Das Licht der frühen Morgensonne fiel durch die Glasscheiben, brannte feine Linien in sein Gesicht und enthüllte eine Quetschung in der Nähe des linken Ohres, die ihr vorher nicht aufgefallen war. Er betrachtete Keva schweigend und rieb sich den Nacken, als könne er damit die Erschöpfung fortwischen.
Schließlich sagte er: »Ich glaube, Danior und Tedni haben dir mehr Einzelheiten über den Kampf in der letzten Nacht erzählt, als ich es tun könnte.«
Keva holte tief Luft und wünschte sich, in der vorigen Nacht ihre Besitztümer eingepackt zu haben und fortgegangen zu sein. Sie
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