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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Erzählungen, und sie wußte nicht, wieviel davon den Tatsachen entsprach. Stimmte es, daß ein Minx ein bewegungsloses Opfer nicht angriff? Daß er es umkreiste und mit seinen scharfen Krallen reizte, aber nicht sprang, es sei denn, sein Opfer zuckte, wich zurück oder versuchte zu fliehen?
    Hatte ihr das Tier deshalb nicht weh getan? Weil sie geschlafen hatte? Oder aus dem einfachen Grunde, weil es sein Pirschspiel noch nicht beendet hatte?
    Und die anderen Räuber der Ebene, die Fyurries, die in hungrigen Meuten jagten; die Lobber und Wassicker, von denen Pars erzählt hatte, die heulten, wenn niedrige Sturmwolken zogen ...
    Sie war ohne eine Waffe bis hierher gekommen, aber jetzt erkannte sie, daß sie nicht unbewaffnet weitergehen durfte. Sie spähte besorgt umher und verließ den Schutz des felsigen Schlupfwinkels.
    Sie hatte geplant, an diesem Morgen den Weg zur Ebene einzuschlagen und nach Anzeichen der Anwesenheit von Herden und ihren Wächterinnen Ausschau zu halten. Statt dessen wandte sie sich gen Westen, dorthin, wo die Rauhen Länder die Ebene einschlossen. Sie ging über den welligen, unebenen Boden am Rande der Ebene. Als sie einen für ihre Zwecke geeigneten Baum fand, brach sie einen kräftigen Ast ab und benutzte ihre Schaufel dazu, ein Ende des Astes anzuspitzen. Es war eine grobe Waffe, aber sie arbeitete mit auffälligen Gesten daran, hob sie hoch, prüfte das Gleichgewicht. Wenn der Minx zusah, und wenn er so schlau war, wie Pars gesagt hatte, würde er erkennen, daß sie bewaffnet war.
    Gemächlich ging sie bis zur Grenze der Rauhen Länder zurück, wobei sie den Spieß mit gemischten Gefühlen trug. Wenn ihr tatsächlich ein Minx nachspürte, fühlte sie seine Augen den größten Teil des Tages auf sich ruhen; dieser Eindruck wurde deutlicher, als sich der Boden unter ihren Füßen veränderte, üppiger und grüner wurde. Obwohl das Land vielversprechend aussah, war die Nahrung knapp, die Vegetation unvertraut, und Keva fand kein Wasser. Sie ging mit dem Wasser, das sie aus der Quelle geschöpft hatte, sparsam um und bewahrte Brot und Beeren für später auf, wenn sie noch hungriger sein würde, als sie es jetzt war.
    Es war später Nachmittag, als sie das felsige Vorgebirge erreichte und hinab auf eine entfernte Herde schaute – die erste, die sie bislang gesehen hatte. Die Tiere hoben sich als Schatten vor dem stumpfen Grün des Horizontes ab. Sie waren zu weit entfernt, als daß Keva einzelne Tiere oder Wächterinnen hätte unterscheiden können. Die nachmittägliche Brise trug ihr weder Geräusche noch den Geruch der Herde zu.
    Sie umklammerte den Stein an ihrem Hals und blickte hinab. Sie war gekommen, um den Wächterinnen Fragen zu stellen, und jetzt waren sie nach einer Wanderung von wenigen Stunden erreichbar. Aber ihre Füße zögerten, sie dorthin zu tragen. Was wäre, wenn sie sich an sie wandte und Dinge erführe, die sie nicht wissen wollte? Daß sie nichts von ihrem Vater gehört hatten. Oder daß sie gehört hatten, er sei tot.
    Sie bewegte sich hölzern und setzte sich in den Schatten eines schützenden Felsens.
Heute nacht.
Heute nacht, während die Wächterinnen schliefen, würde sie hinabsteigen. Sie wollte nicht mit ihnen sprechen, bevor der Morgen dämmerte. Als sie sich zu diesem Entschluß durchgerungen hatte, schloß Keva die Finger um den Stein, lehnte sich gegen den Felsen und ließ die Augenlider zufallen. Die späte Nachmittagssonne wärmte sie, und sie schlief ein.
    Als sie sich steif erhob und über die Ebene blickte, dämmerte bereits der Abend. Während sie geschlafen hatte, war die Herde über den Horizont zurückgezogen. Sie konnte nur noch ein undeutliches Gesprenkel erkennen – vereinzelte Tiere, die in weiter Entfernung grasten.
    Kevas Mund war trocken, und ihr Magen zog sich vor Hunger zusammen. Sie wendete ihr Bündel und fand dasselbe wie schon am Morgen vor: ein paar getrocknete Beeren und ein Eckchen Fladenbrot. Sie aß es langsam; dann trank sie den letzten Schluck Wasser aus der Wasserhaut und versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Das Grün dort unten barg Versprechungen. In der Ebene würde es Nahrung und Wasser geben.
    Und Wächterinnen. Sie hatte sich davor gefürchtet, ihnen tagsüber zu begegnen. Und jetzt beabsichtigte sie, sich bei Nacht unter ihre Herden zu schleichen?
    Schnell, bevor sie ihre Meinung ändern konnte, nahm sie ihr Bündel und den Spieß und bahnte sich ihren Weg über die felsige Landschaft des Vorgebirges; sie bewegte

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