Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
sich rasch, bevor ihre Entschlossenheit ins Schwanken geriet.
Das lose Felsgeröll und die bröckeligen Erdklumpen machten den Abstieg heimtückisch. Sie hatte bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt, stolpernd und sich gelegentlich am Felsen schrammend, als sie wieder das vertraute Prickeln spürte.
Jemand beobachtete sie. Jemand ...
Instinktiv hob sie den Kopf – und erstarrte.
Eine drahtige, zweibeinige Gestalt stand auf einem Gipfel des Vorgebirges; ihr wuscheliges, goldenes Fell schimmerte
in
der Dämmerung. Als sich das Geschöpf bewegte und sein Gesicht aus dem Schatten trat, holte Keva erschrocken Luft. Goldenes Fell wuchs ihm in Locken vom Kopf und wand sich über sein schwarzschnauziges Gesicht. Die schimmernden und blassen Augen blickten triumphierend.
Ein Minx, genau wie Par ihn beschrieben hatte. Reflexhaft griff Keva nach einem zähen Gewächs. Das Gras lockerte sich, und der Fels unter ihren Füßen rutschte. Sie drehte sich zur Seite und griff nach einem zweiten Halt, dann wurde sie vor Schreck starr. Sie durfte sich nicht rühren – sie durfte sich nicht bewegen, oder der Minx würde sie anfallen. Doch sie fiel. Ihre Hand schloß sich um eine stachelige Pflanze. Sie keuchte, als die scharfen Dornen ihr in die Hand stachen; und dann, mit einem erstickten Schrei, stürzte sie den Abhang hinab. Rauher Stein zerkratzte ihr das Gesicht und hinterließ Schrammen auf den Armen. Ihr Knöchel verdrehte sich, und kurz bevor ihr Kopf auf einen Felsvorsprung schlug, spürte sie ihr Knie auf etwas prallen.
Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, als sie das Bewußtsein wiedererlangte. Der Himmel hatte sich ein wenig mehr verdunkelt, und es war noch kein Mond aufgegangen. Sie lag am Fuße des Abhangs, ihr Bein schmerzte, und die Wangen brannten ihr. Als sie erkannte, wo sie sich befand, stieg erneut Panik in ihr auf, hämmerte in ihrem Kopf. Sie blieb liegen, ohne sich zu rühren, atmete kaum. Wenn der Minx in der Nähe war und sie beobachtete, darauf lauerte, daß sie sich bewegte ...
Langsam verdrehte sie die Augen und starrte forschend in die Schatten. Sie sah nichts. Sie wandte den Kopf, dann setzte sie sich auf. Unbewußt legte sie die Hand auf die Wange, und als sie die Hand zurückzog, war sie naß von Blut. Auch die andere Wange schmerzte.
Sie untersuchte sich vorsichtig mit den Fingerspitzen und stellte fest, daß sie an beiden Wangen verwundet war. Mit zitternden Händen wischte sie das Blut fort und stellte sich vor, wie der Minx über ihrem bewußtlosen Körper hockte und ihr die Krallen durchs Gesicht zog in dem Versuch, sie dazu zu bringen, daß sie sich bewegte.
Vielleicht hatte sie ihr Gesicht aber auch nur am Fels zerschnitten und zerkratzt. Wenigstens war der Minx nicht mehr da. Keva bemühte sich aufzustehen, aber der Schmerz in ihrem rechten Bein war so scharf, daß sie nach Atem ringend zurücksank.
Wenn der Minx wiederkam ...
Sie versuchte erneut, sich aufzurichten.
Es war sinnlos. Sie sank zurück und untersuchte das verletzte Bein. Sie war erleichtert, als sie kein Anzeichen für einen Knochenbruch fand. Der behelfsmäßige Spieß lag außerhalb ihrer Reichweite. Sie kämpfte gegen die Schwäche an und schleppte sich über den Boden, um ihn zurückzuholen. Ihr Bündel lag kurz hinter dem Spieß. Sie setzte sich hin und benutzte den Spieß dazu, das Bündel zu sich zu angeln. Als sie es in Reichweite hatte, machte sie einen Moment Pause, dann zog sie sich die Hosenbeine hoch. Das Knie hatte bereits angefangen, dick zu werden.
Mit bebenden Fingern riß sie Stoffstreifen vom Bettzeug und band das Knie ab. Als das geschehen war, war sie imstande aufzustehen, steif, und einen schwankend Schritt nach vorne zu machen.
Aber gehen – sie machte einen mühsamen Schritt nach vorn, und der Schmerz sagte ihr, daß ihr heute nacht keine Wahl blieb. Laufen? Verstecken? Weiter wandern, um auf die Wächterinnen zu treffen? Sie konnte nichts davon tun. Sie konnte nur ausruhen und auf ein besseres Morgen hoffen.
Sie hockte sich an einen großen Felsblock und zerrte den Rest der Bettdecke um sich. Bald schon waren Sterne am Himmel zu sehen, und der erste Mond ging auf. Allindra nannte ihn das Fischervolk: Dame im Nebel. Keva musterte das silberne Gesicht mit schwachem Interesse. Von hier aus betrachtet, war Allindra pockennarbig und mit Schatten gestreift. Das Fischervolk erblickte sie nie so, da sie den Nachthimmel verschwommen durch den Nebel sahen, der den Warmstrom umhüllte.
Mit
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