Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Menschen alles mit, aber in den Räumen deiner Eltern stehen noch immer Möbel. Wenn du mit mir kommst, wenn ich dir zeigen darf ...«
Einen Augenblick lang dachte er, sie würde zustimmen,
doch sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er lebt jetzt nicht mehr
dort. Ich werde ihn nicht finden, wenn ich dorthin gehe.«
»Du wirst ihn nirgendwo finden«, schnappte Danior und
bedauerte es sogleich. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht und ließ nur Wut und Schmerz zurück. Er streckte versöhnend eine Hand aus, aber sie zog sich zurück.
»Ich habe es nicht so gemeint«, sagte er verzweifelt, betrübt darüber, daß er seine Zunge nicht besser im Zaum gehalten hatte.
»Weißt du, daß er tot ist?«
»Nein.
Aber niemand hat ihn gesehen, Keva. Und man würde ihn in den Bergen oder der Ebene erkennen.«
Sie preßte die Hand an die Schläfe. Als sie wieder sprach, zitterte ihre Stimme, aber ihre Entscheidung war klar. »Wenn er dort nicht ist, dann ist er anderswo hingegangen.«
In die nicht auf den Karten eingezeichneten Länder jenseits der Ebene? Zu all den Orten, wohin Menschen gewandert waren, seit die Erst-Zeiter auf Brakrath gestrandet sind? Wo immer sie auch hingegangen waren, es kamen wenig Nachrichten über sie zurück. Niemand wußte, wie viele dieser Menschen überlebt hatten, ausgenommen diejenigen, die zum Warmstrom und in die Wüste gezogen waren.
Wäre Jhaviir zum Warmstrom gezogen, wüßte Keva es.
Wenn er aber in die Wüste gegangen war ... Danior kräuselte die Stirn und rief sich ins Gedächtnis, was er über die Menschen der Wüstenclans wußte. Manchmal kamen Händler aus der Wüste in die Ebene – sie waren hungrig und verschlagen – und boten schweigend Gegenstände zum Tausch gegen Käse und Brot an. Die Wächterinnen gaben ihnen zu essen, wollten ihre Erzeugnisse aber nicht annehmen. Für gewöhnlich entdeckten die Wächterinnen, wenn sie verschwunden waren, daß einige unbewachte Gegenstände – Spieße, Umhänge, Kochtöpfe und Werkzeuge – mit ihnen verschwunden waren. Vor kurzem hatte er gehört, das Clansmänner zur Zeit des Rennens in den Wald gezogen waren, um Rotmähnen zu stehlen. Und er hatte von den Stammeskriegen gehört, die den Wüstenboden mit Blut getränkt hatten, von den wütenden Rivalitäten und den Vendettas. Wenn Jhaviir in die Wüste gezogen war, hatte er dort überlebt?
»Er ist anderswo hingegangen«, wiederholte Keva.
Danior hörte die Hoffnungslosigkeit in ihrer Stimme. Mit einem Seufzen akzeptierte er den Einwand. »Anderswo hin«, antwortete er ohne Überzeugung. »Und wenn wir jetzt nicht essen, versäumen wir noch den Unterricht.«
Sie runzelte bei seiner unerwarteten Kapitulation die Stirn, ihre Schultern hielt sie noch immer steif. »Den Unterricht?«
Wenn sie gerade erst in der Ebene angekommen waren, wußte sie wohl nicht, was das bedeutete. »Die Herden versammeln sich, wenn die Nächte klar sind, um den Unterrichtsteich, und die Stuten geben ihnen Unterricht über die Ebene«, erklärte er. »Wie sie leben müssen. Wie die Herd lebt. Wenn du letzte Nacht bei Waanas Herde warst ...«
»Sie standen am Wasser«, sagte sie zögernd, »aber nicht passierte. Sie standen nur da.«
»Du hast nichts gehört, weil du nicht weißt, wie man zu hört. Du mußt deine Hände auf den Boden pressen, die Augen schließen und auf eine bestimmte Weise lauschen. Ich werde es dir zeigen. Wenn du in der Ebene herumwandern willst, ist es gut, wenn du am Unterricht teilnimmst. « Wenige Menschen, abgesehen von den Wächterinnen, hatte die Stimme der Herden je vernommen. Nur wenige Menschen lernten, was die Rotmähnen lehrten. Wenn er auch nicht ihre Fragen beantworten konnte, wenn er ihr auch nichts Neues über ihren Vater berichten konnte, wenigste konnte er ihr das vermitteln.
Er dachte, sie würde ablehnen. Aber nach einem Augenblick stummen Widerstands nickte sie. Er machte sich schnell auf, Brot und Käse heranzuschaffen, begierig, den Unterricht mit ihr zu teilen; begierig darauf, ihr zu verstehe zu geben, daß er nicht die Absicht hatte, sie zu kränken,
Der Unterrichtsteich war ein Areal aus festgestampftem Boden hinter dem Lager. Es erstreckte sich graslos in alle Richtungen und fiel sanft in ein flaches Becken ab, das mit Quellwasser gefüllt war. Die Wächterinnen hatten sich schon dort versammelt, schweigend in ihren schweren Abendumhängen. Ihre Töchter kicherten und liefen herum, ihr kastanienbraunes Haar flatterte. Die Herde versammelte sich auf der anderen
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