Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
die Lippe, zog die Knie hoch und legte die Innenseite der Hände auf den Boden. Wenn es einen anderen Ort gab, zu dem man sich begeben konnte, wo die Gedanken für einen Augenblick Ruhe gaben, dann würde sie Danior dorthin folgen. Sie sah über den Teich und entdeckte Waana zwischen den Rotmähnen, sie beobachtete sie aus milchigtrüben Augen. Seufzend schloß Keva die Augen und ließ den Kopf nach vorne sinken. Sie ließ ihren Atem versickern, ebenso wie ihre Gedanken.
Anfangs vernahm sie nur ein schwaches, entferntes Rühren. Der Wind? Eine Stimme? Es spielte mit ihrem Bewußtsein; sie atmete tiefer und ließ die Welt entfleuchen.
Zuerst war sie sich der Erinnerungen bewußt, die in die Zeit zurückreichten. Erinnerungen, die von Stute auf Stute übergegangen und dennoch frisch waren. Erinnerungen an alle Wärmezeiten, die die Herde jemals erlebt hatte. Erinnerungen an die Sonnenaufgänge von Jahrhunderten.
Dann verengte sich der Mittelpunkt ihres Bewußtseins, und sie gelangte noch tiefer in das Denken der unterrichtenden Stute. Die Sinne der Stute wurden zu ihren. Sie fühlte den Schmerz in den arthritischen Gelenken. Sie fühlte die Säure, die in ihrem Magen arbeitete. Sie fühlte die dauerhafte Stärke der Stute.
Doch dahinter wurde Keva aller Erfahrungen inne, die die Stute im Laufe des Lebens gesammelt hatte. Die Erinnerungen der Stute wurden die ihren: der Sonnenschein ihrer Jugend, der Geburtsschrei ihres ersten Fohlens, Jahrzehnte voller Mondenlicht – Verbindungen und Paarungen. Keva seufzte, sie suchte mit der Stute frisches Weideland auf und schmeckte die saftigen Gräser. Sie kaute scharf schmeckende Rinden. Sie warf den Kopf in den Nacken und galoppierte mit der Herde über die Ebene; ihre Füße machten, da der Erdboden wie ein irdenes Herz schlug.
Sie übernahm die Weisheit der Stute als ihre eigene.
Hört, meine Stuten. Wenn es für euch an der Zeit ist zu fohlen gibt es Blätter, die ihr kauen müßt. Ihr werdet sie finden, sie wachsen in der Nähe der Wasserläufe und Teiche. Wenn eure Zeit nah ist, müßt ihr zum Wasser gehen, damit ihr davon fressen könnt. Wenn die Zeit des Fohlens euch anderswo trifft, werden die Geburten schwer und eure Fohlen verletzt werden. Und sie werden die Stärke der Herde beeinträchtigen.
Hört, Hengste. Eure Natur ist es, die Herde zu bewachen. Abe wir haben zwischen uns menschliche Wächter; es war nicht so, ah eure Natur geformt wurde. Wenn ihr Raubtiere heranpirschet seht, dürft ihr nicht unnötig euer Leben opfern. Ihr müßt die Warnung überall
verbreiten. Ihr müßt den Warnruf an jede Stute und jedes Fohlen weitergeben, und die Wächterinnen werden ihn hören. Sie werden kommen und die Raubtiere fortjagen, so daß sie euch oder eure Fohlen nicht schlagen können. Sie werden verschwinden, weil sie gelernt haben, die Wächterinnen mehr als ihren Hunger zu fürchten. Und ihr werdet erhalten bleiben für unser aller Stärke;
Hört, Fohlen …
Der Unterricht spann sich fort, wickelte ein, umhüllte, bei lehrte. Indem sie sich ihm ganz öffnete, erfuhr Keva, wie sie die saftigen Gräser erkannte, wo die Rinden zu finden waren, die die nötigen Säuren lieferten, wenn die Weide zu süß war, wie man ein ungebärdiges Fohlen erzog. Sie lernte, wie man trinkbares Wasser von verdorbenem unterschied woran man erkannte, daß sich ein Sturm näherte, und wie man seinen Beitrag zum Frieden und zur Stärke der Hext leistete. Dann schwand die Stimme der Stute; Keva wurde sich schlurfender Füße bewußt, Körper, die ihre Stellung veränderten. Sie wurde sich einer Vorahnung bewußt. Ihre eigenen? Der der Stute?
Die Stimme der Stute kehrte zurück, voller, tiefer.
Und jetzt, meine Herde, kommen wir wieder auf eine Zeit zurück,
die so alt wie unsere Herde ist. Heute habt ihr den Wind aus dem Süden gespürt. Ihr habt in ihm die Pollen von den blühenden Bäumen des Waldes geschmeckt. Hier sind die Tage kalt gewesen, morgens regnete es leicht, aber im Süden sind die Tage warm und trocken gewesen – bis jetzt.
Höre, meine Herde. Jetzt hat der Frühlingsregen den Wald erreicht. Er hat den Staub von den Bäumen gewaschen und die Blüten dazu gebracht, aus den Hüllen zu platzen. Und mit den Pollen kommt die Zeit des Rennens. Wir haben die Jährlinge unter uns gehegt. Wir haben sie beschützt und gelehrt und ihre Schritte gelenkt.
fetzt muß etwas anderes ihre Schritte lenken, etwas Älteres. Jetzt rufen die Pollen, und sie müssen
zum
Wald laufen, so, wie
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