Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
hierhergekommen waren.
Versuchsweise näherte sich Keva einer der schwankenden Blüten. Sie griff hinein und fühlte einen seidigen Kopf. Als ihre Fingerspitzen kribbelten, zog sie die gelb bestäubte Hand heraus. Die Blüte zog sich zurück; ihre Blütenblätter waren noch geöffnet. Da sie nicht wußte, was sie tun sollte, ging Keva weiter und senkte ihre Finger in eine weitere Blüte, strich die Pollen hinein. Die Blüte schwankte einen Moment, dann zog sie sich zurück und schloß die Blätter um Kevas Hand.
Die Liebkosung war kühl, seidenglatt. Behutsam zog Keva die Hand heraus und beobachtete, wie die Blütenblätter sich dicht zusammenrollten. Keva schritt mit einer seltsamen Befriedigung weiter, die Monde übersäten ihren Weg mit Lichtsprenkeln. Sie hatte das Rennen mitgemacht. Sie hatte die Reise zum Wald überlebt. Und sie hatte die Forderung der Blüten erfüllt.
Jetzt, da sie einmal hier war, mußte sie jemanden finden, der ihr den Weg in die Wüste zeigen konnte, und sie wußte nicht, wie das geschehen sollte. Aber etwas in den Pollen und im sanften Wiehern der Jährlinge verdrängte die Sorge aus ihrem Verstand. Sie verbrachte die frühen Nachtstunden wie die Jährlinge und kam dem Ersuchen der Blüten entgegen.
Als die Monde den Zenith überschritten hatten, wurde der Duft des Waldes schwächer. Hunderte von bestäubten Blüten zogen sich in die Bäume zurück und hielten ihren Duft hinter geschlossenen Blütenblättern zurück. Die Jährlinge wurden wieder lebhaft, kickten mit ihren derben Hufen und bissen einander in die Flanken. Keva suchte sich eine kleine Gruppe aus, der sie folgte. Die Jährlinge schienen nichts gegen ihre Begleitung einzuwenden zu haben. Gelegentlich drehte sich der eine oder andere um und schaute nach ihr, dann schossen sie wieder nach vorn zu ihren Gefährten.
Keva hatte die Raubtiere fast vergessen, als sich die Jährlinge vorsichtiger zu bewegen begannen, mit gespitzten Ohren und erhobenen Schwänzen. Keva ging langsamer, die Brust wurde ihr eng. Die Jährlinge – es waren sieben – hielten an und stampften nervös mit den Füßen. Keva erkannte ihre Furcht an den gesträubten Mähnen, den rollenden Augen. Zögernd gesellte sie sich zu ihnen.
Blut besudelte den Waldboden, sein Geruch hing schwer in der Luft. In der Nähe lag ein Stück graues Fell auf der Blätterschicht. Keva packte den Spieß fester, ihre Augen verfolgten die dunkle Blutspur, bis sie sich zwischen den Bäumen verlor. Einer der Jährlinge schaute beunruhigt zu ihr empor, wich vor ihr zurück.
Die Jährlinge blieben eine Weile stehen, dann schnaubten sie nervös und änderten ihren Kurs. Während sie durch den Wald trotteten, hielten sie sich dicht beieinander.
Nach einer Weile hatten sie den Schrecken vergessen. Doch Keva beobachtete auch weiterhin die Schatten, bis ihr durch den dünner werdenden Baumbestand klar wurde, daß sie sich der Waldgrenze näherten. Sie rieb sich die Augen und fragte sich, wann die Jährlinge anhalten würden, um zu schlafen; fragte sich, ob sie sich wie beim letztenmal zu Hunderten sammeln würden. Fragte sich, wie sie es bewerkstelligen sollte, den jungen Mann aus der Wüste oder
einen anderen seiner Art zu finden. Fragte sich ...
Sie war so in Gedanken versunken, daß sie nichts bemerkte – kein Geräusch, keinen Schatten –, bis der Wald um sie herum plötzlich explodierte. Laute Schreie, geduckte Gestalten, rennende Füße; Keva war inmitten der Jährlinge gefangen. Sie erstarrte, ihre Augen nahmen eine Flut von Bildern auf: rennende Männer, flatternde Gewänder, wilde Gesichter. Die erschrockenen Schreie der Jährlinge vermischten sich mit dem beunruhigenden Geschrei der Männer. Die Jährlinge drängten sich dicht zusammen. Der Geruch von Angst lastete schwer über ihnen.
Keva konnte ihre Muskeln nicht bewegen, bis sie spürte, wie eine grobe Schlinge über ihre Schultern glitt, über ihre Arme rutschte, sich fester zuzog und die Arme gegen ihre Seiten preßte. Sie wirbelte herum, zwischen Schock und Wut hin und her gerissen, und stieß einen heiseren Schrei aus. Stockige Zähne schimmerten ihr aus schmutzigen Gesichtern entgegen. Durch den Strick, der sie band, ging ein scharfer Ruck, und sie verlor das Gleichgewicht; der Spieß fiel ihr aus der Hand.
Als sie über den Boden gezerrt wurde, versuchte sie, sich von dem Strick zu befreien. Ein von Panik ergriffener Jährling machte einen Ausfall und erwischte mit seinen derben Hufen ihr Bein. Sie schrie
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