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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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menschlichen Schutz gewöhnt.
    Sie blickte sich unsicher um. Bis zum Waldrand war es nicht mehr weit. Doch Allindra näherte sich dem Horizont, und Zan folgte. Bald würde es dunkel sein. Dunkel bis zum Tagesanbruch. Und Waana hatte gesagt, daß die meisten Raubtiere sich nicht weit in den Wald hineintrauten. Es war besser, die finsteren Stunden tief im Wald zu verbringen, ah
sich der Gefahr dort auszusetzen, wo es wenig Schutz gab.
    Keva stemmte sich gegen einen Baumstamm und kämpfte sich auf die Füße. Ihre Fingerspitzen waren ganz klebrig von halb getrocknetem Blut.
    »Kommt«, sagte sie. »Kommt mit mir.«
    Ungeschickt stolperte sie auf die Bäume zu. Während sie ging, öffnete und schloß sie die Hände und versuchte, die Taubheit aus den Fingern zu vertreiben.
    Die Jährlinge trotteten hinter ihr her und ließen vor Erschöpfung die Köpfe hängen.
    Sie konnten nicht erschöpfter sein, als sie es war. Sie nahm kaum die gelegentlich auftauchenden, unbestäubten Blüten wahr, die sich fordernd neigten, als sie durch den Wald stolperten. Sie ging so lange, bis ihr Knie anfing, bei jedem Schritt nachzugeben, und die Jährlinge schwankten. Dann wählte sie einen Platz, an dem drei junge Bäume dicht nebeneinander wuchsen, und sank auf die Knie. Sie setzte sich vorsichtig hin und lehnte den Rücken gegen den breitesten Baumstamm. Die Jährlinge ließen sich schnaubend und heftig atmend in der Nähe nieder.
    Keva schloß die Augen; sie wollte sich nur noch ausruhen, bis es wieder hell genug war, um weiterzuwandern. Sie wußte, wenn sie einschliefe, würden ihre Finger ganz taub werden. Sie wäre dann nicht mehr in der Lage, den Blutkreislauf ein weiteres Mal anzuregen.
    Trotz des Vorsatzes wurde ihr Atem schwer, und sie schlief ein, ihr Kopf sank nach vorn.
    Ihre Träume eilten rasch vorbei; waren mit beunruhigenden Bruchstücken vertrauter Eindrücke angefüllt. Sie sah Okis Gesicht, die gebogenen Wände von Tehlas Kefri, sah Danior beim Unterricht, die Lider fest geschlossen. Sie sah Orte, die sie durch Waanas Unterricht gesehen hatte, sah rennende Rotmähnen. Verwirrt versuchte sie, nach den verschiedenen Bildern zu greifen, versuchte sie in einen Zusammenhang zu bringen. Manchmal glaubte sie, aufzustehen und über eine vertraute Ebene zu wandern, bis das Gras unter ihren Füßen verschwand. Manchmal dachte sie, sie läge schlafend in Tehlas Kefri.
    Manchmal glaubte sie, überhaupt nicht zu träumen. Sie dachte, sie wäre erwacht und dabei, den Schlafplatz zu verlassen. Sie brauchte nur die Decken zurückzuschlagen, aufzustehen ...
    Es war während eines dieser Intervalle, als sie dachte, der Wald um sie herum wäre wirklich, und der weiße Jährling erschien. Keva schaute zwischen die Bäume und sah einen schwachen Glanz, der näher kam und Gestalt annahm: glatte weiße Flanken, zarte Hufe und eine silberweiße Mähne. Sie näherte sich mit leichtem Schritt. Während sie näher kam, bewegten sich die Rotmähnen und hoben ihre Köpfe, die Augen noch trübe vom Schlaf.
    Der Weißmähnenjährling streckte den Hals und drückte seine glatte, rosige Nase gegen Kevas Wange. Das Fleisch war warm, der Atem des Tieres sanft. Keva stöhnte; sie hoffte in ihrer Verwirrung, daß die Berührung des Tieres sie befreien, daß die Stricke fallen würden.
    Sie fielen nicht. Sie blieb gebunden; ihre Hände waren taub, und die Arme schmerzten. Sie versuchte, nach dem Tier zu greifen, aber sie schaffte es nicht. Keva sank gegen den Baum und drückte vor Enttäuschung die Augen fest zu.
    Als sie sie wieder öffnete, hatte sich der weiße Jährling zwischen die Bäume zurückgezogen. Einen Moment lang blieb er dort ruhig stehen, dann drehte er sich um und lief in kurzem Galopp davon. Keva schloß die Augen und wurde fortgetrieben in das verwirrende Durcheinander ihrer Träume.
    Einige Zeit später wurde sie von einem Geräusch aus dem Dahintreiben geweckt. Sie öffnete die Augen und rang heftig nach Luft. Diesmal träumte sie nicht. Das Bild war zu deutlich, zu genau gezeichnet. Der Junge aus der Wüste stand über ihr. Sie konnte die Poren in seiner Haut sehen; die Linie des Haaransatzes; konnte den Schweiß und den Schmutz riechen, die sein Gewand steif machten. Das Messer in seiner Hand war ebenfalls wirklich. Selbst ohne Mondlicht sah sie die schneidende Schärfe der Klinge.
    Sie nahm dies alles im Bruchteil einer Sekunde auf und erkannte, während er sich tiefer zu ihr herabbeugte, daß sie keine Zeit hatte zu reagieren. Sie

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