Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
hatte nicht einmal Zeit, Luft zu holen, als er das Messer hob und dann sicher und sauber herunterstieß. Nach dem Schock brauchte sie einen Moment, um sich zu rühren und zu erkennen, daß er das Messer nicht nach ihrer Kehle, nach ihrer Brust oder einem anderen lebenswichtigen Organ gestoßen hatte. Statt dessen vollführte der Junge einen raschen Streich nach den Stricken, die sie banden, und trennte sie teilweise auf. Dann sprang er zurück; sein Gesicht war weiß, die Augen glitzerten.
Er schien kaum zu atmen, während er Kevas Reaktion beobachtete. Seine angespannten Muskeln traten deutlich an den Unterarmen und am Kiefer hervor. Einen Moment später senkte er die Klinge. Seine Lippen bewegten sich steif. »Verstehst du? Ich wollte dir nicht weh tun – wirst du mich die Stricke abnehmen lassen.« Seine Stimme war tief, die Worte vorsichtig und überheblich zugleich. Als sie nicht antwortete, sagte er. »Ich spreche in der Bergsprache, verstehst du? Ich werde dich von den Stricken befreien.«
Keva schüttelte stumm den Kopf, der Schock schnürte ihr noch die Kehle zu. Ganz bestimmt bildete sie ihn sich ein oder träumte ihn. Ganz bestimmt ...
»Falsch?« wollte der Junge mit einem gedämpften Aufblitzen von Wut in den Augen wissen. »Dich von den Stricken nicht befreien? Sind das die Worte der Berge?«
Sie bildete ihn sich nicht ein. Sein Ärger sagte es ihr. Keva zwang sich dazu, tief Luft zu holen. »Ja«, antwortete sie und maß die Silben vorsichtig aus, um sich nicht durch ein hysterisches Schluchzen zu verraten. »Ja, befreie mich von den Stricken. Das – das sind die Worte.«
»Ich wußte, daß sie es waren«, prahlte der Junge und musterte sie mit einem intensiven Stirnrunzeln. Er war so, wie sie sich an ihn erinnerte: mager, die Backenknochen scharf gegen das vom Wind gegerbte Fleisch hervorstehend, die Augen schmal und dunkel, die Stirn in Falten gelegt. Wenn seine Kleider auch schmutzig waren, die beiden Tücher um seine Taille waren sauber, als würde er sie waschen, auch wenn er sich selbst nicht wusch.
Der Junge fing die Richtung ihres Blickes auf und zeigte die Zähne. »Du betrachtest meine Schärpen. Sie zeigen an, daß ich aus der Familie Magadaw bin und vom Größeren Clan, der von Viir-Nega angeführt wird. So bin ich beides, sein Clan-Verwandter und sein Soldat. Und du bist auch mit ihm verwandt. Ich sehe es an deinem Gesicht. Ich habe es gesehen, als du die Steine tanzen ließest. Deine Haut ist wie seine, deine Augenbrauen. Aber deine Augen ...« Er runzelte die Stirn. »Er erzählte uns, er hätte Verwandte in den Bergen. Frauen.«
Keva starrte ihn an, versuchte, in seinen hell glitzernden Augen zu lesen. Der Viir-Nega? Sie war mit ihm verwandt?
Ihr Vater?
Ihre Augen irrten zu den glänzenden Schärpen des Jungen. Ihr Vater war ein Mann der Wüste? Nannte sich Viir-Nega? Der Junge hier war ein Angehöriger seines Clans? Und die anderen Wüstenmänner, jener, der ihr den Stein vom Hals gezerrt hatte und dann in Panik geflohen war – vielleicht waren sie nicht erschrocken gewesen, weil sie sie für eine Barohna gehalten hatten. Vielleicht hatten sie in ihr nur die Tochter ihres Vaters erkannt. Der Junge war von dieser Verwandtschaft sichtlich beeindruckt. Instinktiv legte sie Schärfe in ihre Stimme, entschied sich dafür, die Ehrfurcht, die sie in seinem Gesicht wahrnahm, für ihre Zwecke zu nutzen. »Ja, der Viir-Nega ist mit mir verwandt. Binde mich jetzt bitte los.«
Obwohl dem Jungen bei ihrem Ton die Farbe aus dem Gesicht wich, gewann seine Stimme ihre prahlerische Heftigkeit wieder. »Das werde ich. Und dann werde ich dich zum Viir-Nega bringen; und danach werden wir sehen, was er mir darüber, daß ich dich gefunden habe, zu sagen hat.«
Einen Moment lang kamen Keva Zweifel. War es ein Fehler gewesen, daß sie sich als Verwandte eines Mannes ausgegeben hatte, von dem sie nie zuvor gehört hatte? Was mochte der Preis für ihre Vermessenheit sein, wenn er sie verurteilte? Dennoch gelang es ihr, arrogant zu sagen: »Er wird dir danken, da bin ich sicher.« Doch würde er es?
Konnte der Viir-Nega wirklich ihr Vater sein, oder war cif jemand ganz anderer? Und wie sehr sollte sie dem Jungen trauen, mit seinem Messer und dem stolzen Blick?
Aber welche Alternative hatte sie? Der Junge war ihre einzige Chance, wie beherrscht oder unbeherrscht er auch sein mochte.
Der Junge blickte sie kurz an, seine Augen blitzten. »Ja, ich werde dich mitnehmen, und er wird mir danken. Und um
Weitere Kostenlose Bücher