Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
die Täler gezähmt.
So ritt ich aus den Bergen fort, um Härte zu suchen. Ich ritt, um ein Selbstgefühl zu erlangen, das nur die Härte geben konnte. Das Gefühl der Stärke, der Beherrschung.
Ich ritt noch weiter, als ich es bereits besser hätte wissen sollen. Ich ritt, bis ich begriff, daß die Härte mich nicht länger stark machte. Sie machte mich nur einsam. Ich begann es zu spät zu begreifen – nachdem ich dich verloren hatte. Ich erkannte, daß es nichts besagte, wenn ich durch das ärgste Wetter ritt, ohne mit der Wimper zu zucken; daß ich mich weitertrieb, wenn ich müde und krank war; daß ich die Häute der Minx und Felsleoparden trug und Breeterliks und Klipp-Charger niedermachte. Ich hatte kein Volk. Ich war allein.
Ich bin einige Male durch die Wüste geritten und habe dabei gesehen, wie die Menschen der Clans lebten. Die Kri-Nostri hätten gesagt, daß sie wie Kinder sind, ohne Disziplin oder Gesetze. Das stimmt, denn selbst ein Kri-Nostri-Kind ist disziplinierter als die meisten Clansleute. Bestimmt würde sich ein Kri-Nostri-Kind, auf sich allein gestellt, eine bessere Lebensweise ausdenken.
Vielleicht war es gerade das, war für mich den Ausschlag gab. Ich hatte gerade ein Kind verloren, oder ich dachte es wenigstens, und die Wüste war voller hungriger, durstiger und unwissender Kinder – die darauf warteten, daß man ihnen eine bessere Lebensweise zeigte. Und Härte; mir bot sich Härte im Übermaß. Ich erkannte schnell, daß ich hier alles, was ich bei den Kri-Nostri gelernt hatte, anwenden konnte: Stärke, Wachsamkeit, Geschicklichkeit, Ausdauer.
Und so beschloß ich, hierzubleiben, um die Menschen der Clans zu meiner Familie zu machen. Weil ich endlich das Bedürfnis nach Familie, Gesellschaft und Beständigkeit kennengelernt hatte. Nach etwas, was möglicherweise über meine eigene Lebensspanne hinausreichen würde. Und das Land war mir vertraut. Manchmal wandere ich bei Sonnenuntergang ein Stück von Pan-Vi fort, und dann kann ich mir einbilden, ich stünde wieder auf dem Kieselsand von Grenish. Die Farben des Himmels bei Sonnenuntergang sind' die gleichen wie dort, grell und rot. Die Hitze, die Trockenheit sind wie dort. Dieser Ort hier bedeutet für mich Heimat. Und er nimmt mich voll in Anspruch. Manchmal mehr als das. Bestimmt erfordert es meine ganze Kraft und Tapferkeit, wenn ich mich zwischen den Clansleuten behaupten will.
Ich werde dir jetzt nicht alles erzählen, was ich durchgemacht habe, um aus diesen Menschen eine Familie zu machen. Ich möchte dir nur sagen, daß die Menschen, die jetzt im Größeren Clan leben, als ich hier ankam, zu zwölf Kleinen und zwei Großen Clans gehörten. Sie waren Nomaden, hungrig und feindselig; sie lebten in zerschlissenen Zelten und sprachen sechs verschiedene Sprachen. Ihre Frauen waren abgehärmt und entmutigt. Ihre Kinder starben meist schon in ihrem ersten Lebensjahr. Und ihre Männer schlachteten einander wegen geringfügigster Vorfälle ab.
Ich maß mich mit ihnen, wie ich mich einst an der Härte der Natur gemessen habe; und ich schmolz sie zu einer Gemeinschaft zusammen. Ich gab ihnen eine gemeinsame Sprache; eine Sprache, die niemand sonst auf Brakrath spricht. Ich gab ihnen Ackerbau und technisches Wissen. Ich gab ihnen Gesetze und eine soziale Ordnung. Ich gab ihrem Stolz Nahrung, indem ich ihnen Titel und Ehren gab. Und ich brachte ihnen Symbole. Zum Beispiel dieses.« Er deutete auf das Blaue Lied. »Dies ist ein Zauber, den niemand sonst in der Wüste beherrscht. Nur der Größere Clan hat eine singende Seide. Und ich habe ihnen natürlich auch einen Führer gegeben, der die Seide besitzt und sich die Entscheidung in wichtigen Angelegenheiten vorbehält. Mich.
Und jetzt bist du gekommen und hast meinen Anspruch auf wichtige Entscheidungen bestätigt. Du bist meine Tochter und hast Dinge vollbracht, die nur eine Barohna vollbringen kann. Doch wenn ich dich nicht in angemessener Form beim Clan-Ruf präsentiere, wird meine Position durch deine Gegenwart überhaupt nicht gestärkt. Sie wird sie unterminieren.
Hier wird Zurückhaltung nicht respektiert, Keva. Ein Mann – oder eine Frau –, der oder die ihre Überlegenheit nicht offen zur Schau trägt, wird als Schwächling fallengelassen. Es ist einfach die Art dieser Menschen. Ich bin sicher, sie kommen dir wie Aufschneider vor. Für sie muß eine Person, die nicht prahlt, eine Schwäche verbergen. Und Schwäche wird so wenig anerkannt wie Zurückhaltung. Es ist eine
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