Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
schaute finster; sie wünschte, es leugnen zu können. Aber sie hatte die Arnimi-Quartiere betreten – nur einmal –, als ihre Mutter sie, Tanse und Aberra dorthin geschickt hatte. Reyna erinnerte sich deutlich an den Geruch nach kaltem Metall und die fischigen Augen der Leute des ArnimiPersonals, die mit Sensorstäben über ihre Leiber gestrichen hatten.
»Du hast uns erzählt, man würde unseren Gesundheitszustand untersuchen«, sagte sie scharf zu ihrer Mutter.
»Ja, und wenn ich Verras Mahnungen beachtet hätte, wären deine Schwestern heute noch am Leben. Sie wären niemals gegangen, ihrer Prüfung zu begegnen. Weil es unsinnig war. In ihren Herzen war kein Stein, der ihnen Gewalt über den Sonnenthron gegeben hätte. Nicht der kleinste Kristall.«
»Oder, um den Vorgang in unserer Terminologie zu beschreiben, Reyna«, sagte Verra, »in ihrem Hirngewebe befand sich keine Reaktionssubstanz. Es war nichts vorhanden, dessen Wachstum durch den Adrenalinschub der Prüfung angeregt werden konnte. Nichts, um die Veränderungen und den raschen Reifeprozeß in Gang zu setzen. Nichts, was sie befähigt hätte, den Sonnenstein zu benutzen, die Paarungssteine oder irgendeinen der anderen Steine, die eine Barohna nutzen muß. Wenn eine deiner Schwestern durch Zufall ihr Härte-Opfer überwältigt hätte, wäre sie dennoch nicht als Barohna ins Tal zurückgekehrt. Sie wäre eine Palasttochter geblieben; wäre niemals gewachsen und hätte sich niemals verändert. «
Reyna schüttelte halsstarrig den Kopf. »Nein. Nein!« Wenn es stimmte! was Verra erzählte, mußte es Palasttöchter gegeben haben, die ihre Tiere erlegt und sich nicht verändert hätten. Was war mit ihnen geschehen?
Aber es wurde ihr sofort klar, ohne daß sie gefragt hätte. Sie wußte, was sie tun würde, wenn sie ihre Bestie erlegt hätte und sich nicht verändern würde. Sie würde nach einem anderen Tier Ausschau halten – und dann nach einem weiteren, bis die Suche nach ihrer Bestimmung sie endlich in den Fängen eines Raubtieres enden lassen würde.
Aber eine Palasttochter bleiben bis zum Tod? Das war es doch, was ihre Mutter vorschlug. Das war es, worauf sie tatsächlich hinauswollte, wenn sie ihr untersagte, sich ihrer Herausforderung zu stellen. Reyna schrak vor dieser Vorstellung zurück; ihr Gesicht wurde bleich. Immer klein und zart bleiben, die Statur eines Kindes beibehalten? Auf diese Art alt werden? Nutzlos, unfähig, die Steine zu nutzen – unfähig, irgendeine Funktion in der Ordnung des Lebens im Tal auszufüllen?
Langsam drehte sie sich um und sah ihre Mutter an. War es das, was sie vorschlug? Daß sie einfach im Palast bleiben sollte, ohne Nutzen, ohne Auftrag? Daß sie ihr Leben auf diese Weise verbringen sollte, immer die stumme Frage der Leute vor Augen?
»Wenn ich mein Opfer überwältige ...«
»Wenn du dein Opfer überwältigst«, sagte Verra sanft, »wird es nichts bedeuten, Reyna. Außer natürlich, daß du mutig und beweglich warst. Hier ...« Rasch, bevor Reyna sich entziehen konnte, hielt sie ihr Meßgerät an Reynas Schläfe. Als sie es wieder fortnahm, leuchtete ein kleines gelbes Lämpchen auf seiner Anzeige auf. »Wenn du das Potential hättest, eine Barohna zu werden, wäre die Anzeige rot. Aber sie ist es nicht. Du kannst es deutlich sehen.«
Reyna blickte von der Arnimi zu ihrer Mutter und wieder zurück; ihre Gedanken rasten so schnell, daß sie nicht zu fassen waren.
Deutlich?
Sie konnte vieles deutlich erkennen. Da war ein Thron einzunehmen. Da waren Jahreszeiten zu mäßigen, Felder zu erwärmen und ein Tal zu verwalten. Ohne Barohna, die das Sonnenlicht vom kahlen Berghang einfangen und es in ihren Steinen speichern konnte; ohne Barohna, um es freizusetzen, wenn es benötigt wurde, würde nichts davon funktionieren. Das Tal würde erkalten und sterben.
»Ich stelle fest, daß du eher einem Gerät als mir glaubst, Mutter«, sagte sie zornig mit derart bebender Stimme, daß sie befürchtete, in Tränen auszubrechen. »Ich habe für dich getan, was ich konnte. Ich habe mehr als Tanse geübt; mehr als Aberra ...«
Die Muskeln an Khiras Kiefern traten hervor, und aus der Tiefe ihrer Augen brach das Gefühl hervor.
»Ja, du hast geübt; und ich habe zugesehen; im Bewußtsein, deine Schwestern einem nutzlosen Tod überantwortet zu haben. Weil ich mich geweigert hatte, zu glauben, was die Arnimis mir versichert hatten, obwohl dein Vater mich dazu drängte. Weil ich mich geweigert hatte, in diesem einen Punkt
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