Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Hallen glaubten einige, daß ihre Seelen in Kimiras Nacht die Körper verließen und durch eine unfaßbare Region wandelten, in der es weder Zeit noch Raum gab.
Sicherlich war Reynas Seele verwirrt. Fröstelnd stellte sie die Füße auf den Boden und ging ans Fenster. Heute nacht war das Sternenlicht von ungewöhnlicher Brillanz, die in den Augen schmerzte; es hätte trübe sein müssen angesichts dessen, was Reyna wußte.
»Sag meiner Mutter, daß ich zu ihr kommen werde, wenn ich mich angekleidet habe«, sagte sie.
Mit steifen Fingern zog sie die Hose an und schlüpfte in die Stiefel. Sie starrte sie an, als gehörten sie zu jemand anderem; ihre ganze Unförmigkeit erinnerte sie an die Wahl, die ihr bevorstand: eine Palasttochter zu bleiben oder sinnlos zu sterben.
Denn abgesehen von der vom Zorn inspirierten Erklärung, die sie früher am Abend abgegeben hatte, welchen Nutzen hätte ihr Tod, wenn sie auf den Berg ginge? Er brächte nicht einen Augenblick Wärme ins Tal. Der Sonnenthron würde nicht glühen, weil sie gegangen war. Die Früchte des Gartens würden nicht süßer. Das Getreide auf dem Feld wüchse nicht höher.
Aber wenn sie blieb ...
Ein neues Frösteln ließ ihren Körper erschauern. Sie stand auf und rieb die geschwollenen Augenlider. Dann trat sie auf den von Stengellampen erleuchteten Flur hinaus.
Sie hatte die Räumlichkeiten ihrer Mutter nicht wieder aufgesucht, seit ihr Vater gegangen war. Das Zimmer schien ihr nüchterner, als sie es in Erinnerung hatte. Hatten auf dem Schreibpult nicht kleine Figürchen gestanden? Hatten an den Wänden nicht gewobene Vorhänge gehangen? Das alles war jetzt fort. Und ihre Mutter hatte die Stengellampen an der Decke so dicht wachsen lassen, daß ihre Ausläufer ein helles und schattenloses Licht auf die kahlen Wände warfen.
Das Gesicht ihrer Mutter wirkte im grellen, orangefarbenen Licht der hypertrophierten Stengelgewächse ebenso abgenutzt wie die Wände. Unter der Sonnenbräune war ihr Gesicht bleich. Der Stoff ihres Gewandes war an ungezählten Stellen stark zerknittert, wo sie ihn krampfhaft in den Fäusten zusammengeballt hatte. Juaren saß auf der Fensterbank, das Gesicht beschattet, er sah finster aus. Reyna sah die beiden an und vermutete, daß sie nicht geschlafen hatten. Etwas in der Atmosphäre des Raumes machte sie wachsam; ein Eindruck von Worten, die in ihrer Abwesenheit gesprochen worden waren, Worte, die sie betroffen hatten. Sie zögerte, dann begegnete sie dem Blick ihrer Mutter mit heftigem Mißtrauen.
››Du wolltest mich sprechen«, sagte sie.
Ihre Mutter runzelte die Stirn und schien gegen einen starken Widerstand zu kämpfen. »Ja. Wir müssen noch einmal reden. Unsere Unterhaltung kürzlich wurde abgebrochen.«
Ihr kurzes Zögern machte Reyna wieder Mut. »Nein. Ich ging, ohne entlassen worden zu sein, aber es gab nichts mehr zu sagen.«
Überhaupt nichts.
»Es wurde abgebrochen«, beharrte Khira; endlich gelang es ihr, eine gewisse Überzeugung in ihre Worte zu legen. Sie, strich sich mit der kräftigen Hand übers Haar. »Du kennst die Gebräuche ebensogut wie ich. Ich habe dir gestern abend gesagt, daß du eine Schwester haben würdest. Es sind Worte vorgesehen, die du mir als Erwiderung hättest sagen müssen; Worte, die bei dieser Gelegenheit traditionellerweise ausgesprochen werden. Du bist gegangen, ohne sie zu sagen. Ich habe darüber nachgedacht, und ich habe beschlossen, daß ich sie jetzt hören muß.«
Reyna starrte ihre Mutter ungläubig an. War das der Grund, aus dem sie zu dieser Stunde zurückgerufen worden war? War es das, weshalb ihre Mutter nicht hatte schlafen können? Erwartete sie wirklich, daß Reyna die üblichen Gelöbnisse abgeben würde – für eine Schwester zu sorgen, die sie nie zu Gesicht bekommen würde, und sie zu lehren? Eine Schwester, die mehrere Jahreszeiten nach ihrem Tod geboren würde?
»Ich kann in bezug auf diese Schwester nichts geloben«, sagte sie. »Du weißt, daß ich bereits den Termin meiner Herausforderung festgesetzt habe.«
Khiras Augen wurden schmal. »Du willst ihn einhalten, ohne an deine Schwester zu denken?« fragte sie. »Vielleicht hast du keine genaue Vorstellung von den Pflichten, die eine ältere Schwester der jüngeren gegenüber hat. Aberra stand dir altersmäßig zu nahe, um die übliche Verantwortung zu übernehmen. Aber dieses Kind wird um sechzehn Jahre jünger sein als du, und du wirst gebraucht, um es zu beschützen und zu lehren. Du wirst
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