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Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide

Titel: Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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würden wünschen, ihr Leben als Palasttochter zu beenden, ohne Aufgabe und ohne Stolz; nicht einmal mit dem Stolz über einem tapfer gewählten Tod?
    Verwirrt hob sie die Hand zur Schläfe und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Was war das Leben ohne Stolz und Pflicht?
    Was waren Stolz und Pflicht ohne Leben?
    »Du hast es mir erzählt«, sagte sie schließlich.
    »Ja«, stimmte ihre Mutter zu und sagte dann nichts mehr. Juaren saß auf der Fensterbank und hörte sich alles mit schweigender Aufmerksamkeit an.
    Reynas Hand bebte an ihrer Schläfe, als sie verschiedene Faktoren gegeneinander abwog: die Tradition, die Wünsche ihres Vaters, die ihrer Mutter, die Erwartungen der Leute und ihre eigenen langgehegten Erwartungen.
    »Ich muß gehen«, sagte sie endlich; und sie wußte, daß nie eine andere Entscheidung möglich gewesen war.
    Es nicht zu tun, hieße Tanses und Aberras Tod des Sinnes zu berauben. Sie würde niemals ohne Schuldgefühle an ihre Schwestern denken können, wenn sie den Wünschen ihrer Mutter nachgab. Und im Palast zu bleiben und die stumme Frage in den Blicken der Leute zu ertragen ...
    Immerhin bestand noch die Möglichkeit, daß die Arnimis sich irrten. Sie hatten die meisten brakrathischen Lebensformen seziert und untersucht; aber sie hatten niemals eine Barohna seziert. Und wie viele Palasttöchter hatten sich der Prüfung gestellt, seit die Arnimis ihre Studien begonnen hatten? Die Zahl konnte nicht sehr groß sein. Es gab Raum für Irrtümer.
    »Ich muß es tun«, wiederholte sie lauter.
    Juaren wandte sich bei ihrer Erklärung hastig um und sah finster aus dem Fenster, die Lippen eng zusammengepreßt. Ihre Mutter seufzte tief, ihre Hände zerknüllten ihr Gewand. Langsam schritt sie ans Fenster und starrte ebenfalls hinaus.
    »Es ist Kimiras Nacht«, stellte sie geistesabwesend fest. »Die Monde sind untergegangen«, stimmte Reyna zu.
    Es schien angemessen, daß sie fort waren. Was nicht angemessen schien, war das helle, klare Feuer der Sterne. »Und du mußt deine Prüfung ablegen.«
    »Ja, das ist richtig«, stimmte Reyna erneut zu, obwohl ihr plötzlich Tränen aus den Augen quollen und ihre Brust vor Furcht eng wurde.
    Ihre Mutter verharrte noch eine Weile am Fenster; dann drehte sie sich scheinbar widerstrebend um und ging zum
    Schreibpult. Sie beugte sich darüber, zog eine der unteren Schubladen auf und nahm ein sorgfältig zusammengefaltetes Tuch heraus. Sie entfaltete es und ließ es durch die Finger gleiten.
    »Du weißt, was das ist.«
    Reyna starrte mit zweifelnd gerunzelter Stirn auf das seidene Tuch. Es ähnelte einer Trauerschärpe; aber es glitt so geschmeidig, so anschmiegsam durch die Hand ihrer Mutter, als wäre es lebendig.
    »Die Sternenseide«, sagte sie verwundert. »Danior brachte sie von seinem ersten Besuch bei unserem Onkel in der Wüste mit. Sie ... sie hat eine Stimme.«
    Darüber hinaus wußte sie nicht viel. Danior hatte die Seide im Tal nur selten getragen, obwohl Reyna gehört hatte, daß er
    sie zuweilen trug, wenn er allein in die Berge ritt. Und die Stimme, mit der sie sprach – wenn es stimmte, was sie darüber gehört hatte –, aber es konnte nicht stimmen. Es war sicher eine Legende. Das Terlath-Tal war voll von derartigen Legenden.
    »Hier! Höre, wie es spricht«, sagte ihre Mutter, trat ans Fenster und warf den Stoff mit sanftem Schwung in die
    nächtliche Brise. Er wehte geschmeidig im leichten Wind und wand sich wie ein lebendes Wesen; das Sternenlicht hob ihn weiß gegen die Dunkelheit ab.
    Reyna stockte der Atem, als die Seide anfing zu sprechen. Ihre Stimme war – genau, wie man es ihr erzählt hatte – die Stimme ihres Vaters. Aber die Worte waren fremd; befehlend und bittend zugleich, scharf und eindringlich.
    Reyna fröstelte; sie versuchte zu erraten, weshalb ihre Mut
    ter den Stoff in den Wind hielt und weshalb er mit derart heftigem Schmerz sprach. Sie wußte, daß ihr Vater als Kind jenseits von Brakrath gelebt hatte. War dies seine Stimme, die in der Sprache redete, die er benutzt hatte, bevor er hierher gekommen war? Aber die Seide sprach nicht mit der Stimme eines Kindes. Ihre Stimme war die eines Mannes.
    Reyna schaute zu Juaren und sah, daß er zu regloser Aufmerksamkeit erstarrt war. Er lauschte der Seide so gespannt, daß sein Gesicht die übliche Verschlossenheit abgelegt hatte.
    »Es ist . meines Vaters Stimme«, sagte Reyna.
    Behutsam zog Khira die Seide ins Fenster und legte sie wieder zusammen. »Es ist sie

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