Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
körperlich, aber mit seinen Sinnen. Er hat die Szenerie gesehen und die Bewohner. Er hat die Anordnung der Sterne an jenem Himmel gesehen; und dadurch waren die Arnimis fähig, die Lage dieser Welt zu bestimmen.«
Die Welt, auf der Birnam Rauth gefangen war? »Sie wissen ... sie wissen, wo die Botschaft herkommt?«
Reyna hatte vergessen, daß sie nichts tun konnte. Impulsiv nahm sie ihrer Mutter die aufgewickelte Seide aus der Hand. Dann ging sie zum Fenster und wickelte sie ab, um sie dem Wind auszusetzen. Der eindringliche Ton der Stimme ließ sie den Stoff sofort wieder hereinziehen.
»Und niemand hat sich aufgemacht, um zu untersuchen, was geschehen ist? Um sich davon zu überzeugen, ob er noch lebt?«
Wie konnte jemand die Botschaft vernehmen und nicht danach verlangen, ihr zu folgen? Sie wollte unbedingt wissen, was geschehen war, und sie hatte Birnam Rauths Namen kaum je vor heute abend gehört.
»Soweit wir wissen, niemand. Es ist über ein Jahrhundert her, seit er verschollen ist. Die Arnimis haben diese neue Nachricht an die Co-Signatoren übermittelt, aber sie lehnten es ab nachzuforschen. Sie schätzen die Chance, daß er noch lebt, als sehr gering ein. Und die Welt, von der die Seiden stammen, wurde niemals erforscht; außer natürlich durch Birnam Rauth. Die einzige Person, die sich aufmachen möchte, die gerne erfahren möchte, was geschah, ist dein Vater.«
Reyna sah sie verwundert an. Aber weshalb sollte es sie überraschen, daß die Eindringlichkeit der Botschaft ihren Vater angerührt hatte, so, wie sie selbst von ihr angerührt war; insbesondere, wenn sie in seiner eigenen Stimme gesprochen war; von einem Mann, den man als seinen Vater bezeichnen konnte. Der unvermittelte Schmerz plötzlichen Verstehens ließ sie die Stirn in Falten legen.
»Er ist nicht ... er hat nicht ...« Hatte ihr Vater gelogen, als er gesagt hatte, er würde in die Wüste gehen? War er statt dessen ganz woandershin gegangen – auf die Suche nach Birnam Rauth?
»Nein. Der Rat hat ihm untersagt aufzubrechen. Er trägt noch immer ein Ortungsgerät der Benderzic.«
»Ein Ortungsgerät?« Reyna warf einen Blick zu Juaren und sah, daß er noch immer zuhörte wie zuvor – mit gesammelter Aufmerksamkeit –, die Augen halb geschlossen und das Gesicht ohne die übliche Verschlossenheit.
»Wenn die Benderzic ein Rauth-Image absetzen, implantieren sie ein Ortungsgerät tief in seinen Herzmuskel. Es erlaubt ihnen, das Image über große Distanzen ausfindig zu machen, wenn sie zurückkehren, um es zu holen. Wenn Iahn Brakrath verließe und den Benderzic in die Hände fiele ...«
Reynas Atem stockte. »Was würden sie mit ihm machen?«
»Dasselbe, was sie getan hätten, wenn sie ihn mitgenommen hätten, als sie damals seinetwegen gekommen waren. Ein Rauth-Image ist kein Mensch für sie. Für sie ist es ein Werkzeug, das man benutzt. Und sie haben ganz bestimmte Vorstellungen von seinem Gebrauch. Sie würden auf ganz leichte Art Dinge über Brakrath erfahren, die wir sie nicht wissen lassen möchten. Iahn hat bereits zu lange unter uns gelebt, als daß wir ihn gehen lassen könnten. Wir können nicht zulassen, daß sein Wissen versteigert wird.«
»Dann kann er nicht gehen«, sagte Reyna erleichtert. Etwas lenkte sie ab; sie blickte zu Juaren und sah, daß seine Gedanken den ihren vorausgeeilt waren. Zum erstenmal verließ er die Fensterbank und stand aufrecht dort; das Licht der Stengellampe schimmerte hell in seinem Haar.
»Habe ich dich recht verstanden, Barohna? Iahn kann nicht gehen ... aber andere könnten es? Andere Menschen können sich aufmachen, um zu erfahren, was vorgefallen ist?« Seine Augen verengten sich; der Blick war intensiv.
Reyna starrte ihn an, aufgewühlt durch die Idee hinter seinen Worten.
Andere Menschen können gehen?
Aber welche anderen Menschen kamen dafür in Frage? Wen sonst kümmerte es, was mit Birnam Rauth geschehen war?
Sie selbst.
Sie überdachte diesen Gedanken und war erschüttert durch ihn. Der Rat würde ihrem Vater nicht erlauben, Brakrath zu verlassen und Birnam Rauths verzweifeltem Hilferuf zu folgen. Die Co-Signatoren, diese Allianz, der die Arnimis verpflichtet waren, hatten es abgelehnt, die Untersuchung in die Wege zu leiten. Ein Mann – verschollen seit über einem Jahrhundert – war für sie nicht von großem Interesse.
Aber es handelte sich nicht um irgendeinen Mann. Er war der Mann, aus dem ihr Vater hervorgegangen war. Auf eine gewisse Weise
war
er ihr Vater. Und
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