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Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide

Titel: Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Ein kleinerer Schatten bewegte sich durch die Luft und berührte ihre Wange. Sie sprang zurück und holte überraschend Luft. Ein Insekt, das fliegen konnte? Auf Brakrath gab es so etwas nicht. Angenommen, es wäre giftig ...
    Aber sie mochte sich jetzt nicht zurück ins Schiff treiben lassen. Sie war lange genug eingesperrt gewesen, und die Sternenseide konnte an Bord nicht zu ihr sprechen. Als der winzige Schatten zurückkehrte, schlug sie ihn beiseite und entfaltete die Sternenseide. Sie glättete sie, schüttelte sie aus und ließ sie im leichten Wind wehen.
    Sie erhob sogleich ihre Stimme und sagte die vertrauten Worte:
Ich kann nicht sprechen, aber die Gedanken, die mir kommen, gehen irgendwohin. Irgendwohin; und ich nehme an, sie werden aufgezeichnet. Wenn du sie hörst, mache dich auf die Suche nach mir. Hole mich hier heraus. Befreie mich.
    Mein Name ist Birnam Rauth; und meine Gedanken werden aufgezeichnet. Suche mich.
    Sie brauchte Verras Übersetzer nicht, um diese Worte zu verstehen. Bevor sie Brakrath verließ, hatte sie der Seide so oft zugehört, bis sie jede der rauhen Silben kannte. Aber heute nacht, als der Wind zunahm, erklang von der Seide eine zweite Stimme; und sie sprach nicht, sondern sang.
    Erregt raffte Reyna das Seidengewebe zusammen und brachte es zum Schweigen. Sie spähte mit angehaltenem Atem und gesträubten Nackenhärchen umher.
    Sie war noch immer allein. Es gab keinerlei Hinweis auf ein Lebewesen. Aber in diesen ungeschützten Augenblicken hatte der unerwartete Gesang der Seide ein unerklärliches Gefühl der Anwesenheit von etwas Fremdem hervorgerufen. Sie hatte ein Gefühl, als stünde jemand hinter ihr – als könne
er
sie berühren –, als könne er die Hand auf ihre Schulter legen.
    Die Stimme ihres Vaters ... Die Stimme ihres Vaters erklang ebenso wie die Birnam Rauths von der Seide. Das hatte sie erwartet. Aber die Seide hatte nie zuvor gesungen, und Reyna stand einen Augenblick, als wäre sie zu Eis erstarrt. Dann befestigte sie die Seide sorgfältig am untersten Zweig des verwachsenen Baums und trat zurück.
    Erneut ließ die Seide ihre Stimme erschallen. Birnam Rauth verkündete ihr in der nächtlichen Brise seine Botschaft, wieder und wieder; die Worte und die Modulation waren immer gleich. Zugleich sang er; und in dem wortlosen Gesang konnte Reyna keine Wiederholung feststellen. Er war ununterbrochen, ohne Strophen oder Versmaß, ohne Rhythmus oder erkennbaren Sinn.
    Aber selbst so redete er zu ihr von Dingen; Dingen, die sie zutiefst berührten. Sie lauschte noch immer, als der Mond sank und der Wind auffrischte. Kleine Schatten flogen vor ihrem Gesicht her. Zuweilen hatte sie einen Eindruck wie von flatternden Flügeln. Einmal landete ein Insekt auf ihrer Schulter; sie fegte es achtlos und reflexartig herunter.
    Birnam Rauths Gesang ließ sie an einsame Winter und leere Korridore denken. Er ließ sie an die Motive denken, die sie hierher getrieben hatten: Stolz, Eigensinn und Qual. Und er ließ sie schaudernd erkennen, welche Dinge außer Bewußtsein und Atem sie besaß; ließ sie an die lichten Legenden denken, die in ihr lebten, an die Erinnerungen, die in ihrem Kopf waren, und an die Dinge, die eines Tages in ihrem Gedächtnis sein mochten; helle oder düstere.
    Nach einer Weile wuchs ungebeten in ihr selbst ein Gesang. Er war schweigend, nach innen gerichtet, dem Gesang der Sternenseide ähnlich; ein Gesang voll von unbeantworteten Fragen und Einsamkeit. Wie unter einem Bann sang sie, bis der Mond hinter den Horizont gesunken war. Dann erwachte sie allmählich benommen aus der Trance – und bemerkte, daß sie nicht mehr allein war. Sie sog scharf die Luft ein. Vom Gebüsch her beobachteten sie Augen.
    Reyna fröstelte, als sie direkt in diese Augen sah. Sie waren gelb; die Pupillen waren senkrecht und ungewöhnlich lang-gestreckt. Die Höhe der Augen zeigte ihr an, daß ihr Besitzer zumindest so groß war wie sie.
    Reyna stand zum Eiszapfen erstarrt für die Dauer eines Dutzend flacher Atemzüge. Dann machte sie einen tastenden Versuch nachzudenken. Ihr Spieß wurde im Schiff verwahrt, und ihr Jagdmesser trug sie nicht bei sich. Falls das Wesen, das sie beobachtete, ein Raubtier sein sollte ...
    Aber es begnügte sich damit, sie zu beobachten; seine Augen blickten unverwandt, und es rührte sich nicht vom Fleck. Vielleicht, wenn sie rückwärts ginge, auf das Schiff zu, langsam, ohne daß es wie eine Provokation aussähe ...
    Aber die Seide sang noch immer im

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