Sternenwind - Roman
Geschichtenabend. Uns wurde jede Menge Essen angeboten, und für jeden gab es ein Glas Bier. Lange Tische waren im Saal aufgestellt worden. Jemand hatte grün glänzende Rotbeerenblätter und filigranes cremefarbenes Sägegras als Dekoration auf den Tischen verteilt. Ich entdeckte Kayleen und Joseph, die zwei Plätze für uns freihielten. Mit unseren Tellern und Gläsern schoben wir uns vorsichtig durch das Gedränge, bis wir die beiden erreicht hatten.
Als wir mit dem Essen begannen, beugte ich mich zu Kayleen hinüber. »Hast du schon Alicia oder Liam gesehen?«
Sie zeigte auf die Bühne. »Liam rennt die ganze Zeit da oben rum, aber er hat mich bisher noch nicht bemerkt.«
Die Vagabunden waren die Augen und Ohren der Kolonie, die den Kontinent durchstreiften, um wissenschafliche Forschungen zu betreiben und neue Nahrungsquellen zu erschließen. Die Kolonie baute vorwiegend Feldfrüchte von der Erde und von Chrysops an. Die Vagabunden hatten gelernt – manchmal auf die harte Tour –, welche einheimischen Spezies für Menschen verträglich waren, wie zum Beispiel die Früchte des Zwillingsbaums, und welche Vergiftungen oder Krankheiten hervorriefen. Sie studierten die Pflanzen und Tiere von Fremont. Jedes Jahr brachten sie Djuri-Fleisch und getrocknete Nüsse, Samen und Früchte mit, die sie gegen Mais, Weizen, Heu, Hühner und Ziegen eintauschten.
Und sie brachten Geschichten mit. Die ganze Stadt versammelte sich, hungrig auf das Festmahl und neues Wissen.
Die Anführer beider Vagabunden-Sippen liefen in ihrer besten bunten Kleidung auf der Bühne herum. Die Ostsippe trug rote Halstücher, die Westsippe goldene. Die Namen hatten nichts mit geografischen Richtungen zu tun. Wie ich gehört hatte, gingen sie auf die zwei Universitäten von Chrysops zurück. Hier sei angemerkt: Wir hatten hier nur eine Universität, die jeden Winter in diesem kalten Saal von der Wissenschaftlergilde betrieben wurde; als Unterrichtsmaterial dienten die Datenbanken und von den Vagabunden verfasste Artikel.
Irgendwann während unserer Mahlzeit entdeckte ich Alicia, die bei ihren Adoptiveltern Bella und Michael an einem Tisch auf der anderen Seite des Raums saß. Sie sah mich, wandte aber sofort den Blick ab. Ihr langes dunkles Haar hing ihr in wirren Strähnen über die Schultern, und sie trug verschlissene alte Kleidung.
Ich zwang mich dazu, meine Aufmerksamkeit wieder dem Essen zu widmen, während ich mir wünschte, ich könnte einfach aufstehen und zu ihr hinübergehen. Ihre Familie behandelte Alicia wie eine Kriegsgefangene. Sie nahm an Gemeinschaftsveranstaltungen teil, aber sie musste dabei an der Seite ihrer Eltern bleiben. Unser Kontakt war bisher immer nur flüchtig gewesen.
Liam hatte es besser, vielleicht sogar besser als wir. Wir wussten nicht viel über seine Fähigkeiten, aber er hatte den Ruf, nützliche Werkzeuge zu erfinden, und er schien allgemeinen Respekt zu genießen. Er war von Akashi und Mayah adoptiert worden, den Anführern der Westsippe. Akashi sorgte dafür, dass er alle Hände voll zu tun hatte. Vielleicht hatte er einfach nur keine Zeit, sich zu uns zu setzen.
Eine ältere Frau aus der Kulturgilde klatschte in die Hände, damit die Tische abgeräumt wurden. Ich hob mein Glas und trank den letzten Rest Bier aus. Dabei genoss ich das warme Gefühl, das diese seltene Delikatesse in meinem Bauch hinterließ. Die Gespräche im Saal verstummten nach und nach. Die Leute verrückten Stühle, um einen möglichst guten Blick zur Bühne zu haben. Die kleineren Kinder hockten auf dem Boden direkt vor der Bühne, wo sie kicherten und miteinander flüsterten.
Akashi ging zu einem Mikrofon am Ende der Bühne. Er war groß und hatte einen leicht gekrümmten Rücken, er war mindestens fünfzig Jahre alt, und sein graues Haar war zu einem langen Zopf zusammengebunden. Er trug ein Schauspielerkostüm in Rot und Schwarz mit weißen und braunen Perlen und Muschelschalen, die an den Schultern und am Saum seiner weiten Hose angenäht waren. Seine dunkle Haut verriet, dass er ständig Sonne und Wind ausgesetzt war. In seinen braunen Augen glitzerte warmherzige Freundlichkeit. Selbst die Kinder verstummten, als er sich räusperte.
»Ich vermute, das Erste, wovon ihr hören wollt, ist das Erdbeben. Ich werde euch unsere Geschichte erzählen. Danach werdet ihr die der Ostsippe hören.« Er hielt inne, sah sich im Saal um und zog mit seinem intensiven Blick die Aufmerksamkeit auf sich. »An jenem Tag schien die Sonne, und
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