Sternhagelgluecklich
zu opfern – für Rekorde, die die Menschen entweder gar nicht kennen oder als skurril belächeln.
»Ich bin ein großes Kind – mit dem Gemüt eines Siebenjährigen«, antwortet Ashrita nach einigem Nachdenken. »Und dafür bin ich dankbar.« Warum? »Weil wir als Kinder noch eine grenzenlose Fantasie und ausufernde Träume haben. Noch bedingungslos an unsere Eltern glauben – und an Gott. Weil wir uns keine großen Sorgen über die Zukunft machen. Weil wir als Kinder noch rein und unverdorben sind und uns spontan über die kleinsten Dinge freuen können. Lauter Sachen, die wir als Erwachsene verlieren.«
Ein alter Freund von Ashrita kommt zur Tür herein. Er hat eine Videokamera und eine Stoppuhr mitgebracht. Bei Guinness-Rekorden geht es sehr ernsthaft zu: Jeder Rekord muss genauestens dokumentiert und von unabhängigen Zeugen bestätigt werden.
Nachdem ich gestern an die Wand geklebt wurde, bin ich heute für die Aufgabe des Zeugen eingeteilt. Zusätzlich bekommt jeder, der einen Rekordversuch anmeldet, die genauen Regeln für die jeweilige Disziplin zugeschickt. In den zahlreichen Blättern, die Ashrita für den heutigen Versuch mitgebracht hat, ist beispielsweise vermerkt, wie breit das Balanceboard sein muss (22,8 bis 27,9 Zentimeter), wann eine Kniebeuge wirklich eine Kniebeuge ist (die Oberschenkel müssen parallel zum Boden sein) und welche Hilfsmittel erlaubt sind (keine).
Die ersten sieben Versuche gehen allesamt schief. Ashrita schafft es zwar, die Balance zu halten, aber seine Kniebeugen sind einfach zu langsam – obwohl er dabei stöhnt und schnauft, als ginge es um sein Leben. Ich glaube nicht mehr daran, dass er es noch schaffen kann. Wie viel Kraft kann er in seinen übersäuerten Oberschenkeln noch haben? Doch Ashrita will es noch ein letztes Mal versuchen. In sich gekehrt wandert er eine Minute durch das Café, in dem sich an diesem Nachmittag außer uns nur ein paar Schulkinder befinden, die uns neugierig beobachten. Dann steigt er wieder auf das wackelnde Brett.
»Bereit?«, fragt der Kameramann mit der Stoppuhr in der Hand.
»Bereit!«, antwortet Ashrita. Dann legt er los.
Sechzig Sekunden später hat er fünfundfünfzig Kniebeugen geschafft – drei mehr als der bisherige Rekord. »Waren alle in Ordnung?«, will er atemlos wissen und nimmt die Videokamera an sich, um im Display nachzusehen, ob er auch jedes Mal wirklich tief genug in die Knie gegangen ist.
Ungefähr vier Wochen später wird er einen Brief von einem Guinness-Buch-Mitarbeiter erhalten. Dort hat man das Video und meine eidesstattliche Erklärung gesichtet und ihm seinen dreihundertsiebenundzwanzigsten Weltrekord bestätigt: vierundfünfzig Kniebeugen – eine einzige war tatsächlich nicht tief genug.
Ashritas Durchhaltevermögen beeindruckt mich. Wer denkt, dass es einfach sei, solche Rekorde aufzustellen, irrt sich. Denn selbst bei den ausgefallensten Disziplinen ist die Konkurrenz riesig.
Als Nächstes will Ashrita zwei Rekorde zurückerobern, die andere ihm abgejagt haben: Hopserlauf über fünf Kilometer und Baseballschläger-Balancieren auf dem Zeigefinger. »Ich will niemals damit aufhören«, sagt er, als ich ihn frage, wann er sich zur Ruhe setzen will. »Ich würde gerne sterben, während ich einen letzten Rekordversuch unternehme. Schließlich gibt es Tausende von Rekorden im Guinness-Buch – und ich behaupte, es gibt keinen, den man nicht brechen kann, wenn man es nur lange genug versucht. Na gut, vom größten Mann der Welt vielleicht mal abgesehen.«
Der glücklichste Mensch der Welt?
Auf den ersten Blick wirkt jemand wie Ashrita Furman auf viele sicher befremdlich. In unserer Gesellschaft gibt es eine klare Vorstellung davon, was ein erfülltes, glückliches Leben ausmacht: ein guter Job, die Gründung einer Familie, stetig gemehrter Wohlstand. Es fällt uns schwer, uns vorzustellen, dass auch ein ganz anderer Weg funktionieren kann. Mönche in einem fernöstlichen Kloster finden wir exotisch-interessant, und wir verewigen sie gerne auf unseren Urlaubsfotos. Aber jemand wie Ashrita, der in unserer Mitte in einer westlichen Großstadt so ganz anders lebt als wir? Der nie eine Familie gründen wird und seinen Beruf nicht als Selbstverwirklichung, sondern als Broterwerb begreift, den ihm sein Guru mehr oder minder zugeteilt hat? Der seine Freizeit damit verbringt, möglichst lange bewegungslos auf einem Gymnastikball zu stehen, um diesen Guru zu ehren und andere Menschen zu inspirieren? Kann so jemand
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