Sternhagelverliebt
tatsächlich?«
»Hast du es nie gelesen?«
»Sehe ich aus wie ein Mädchen?«
»Nein, aber wie jemand, der seinen Abschluss in englischer Literatur gemacht hat.«
»Touché.«
Mit einem Mal wird uns wieder bewusst, was als Nächstes kommt, und wir verfallen in Schweigen.
»Bist du bereit?«, frage ich.
Henry schiebt die Hände in die Taschen seiner Jeans. Seine Miene ist so unergründlich wie schon vorhin. »Klar. Sollen wir in die Bibliothek gehen?«
»Nein. Komm mit.«
Wir nehmen den Weg, den wir schon so oft entlanggejoggt sind. Die Luft ist noch immer warm vom Tag, und es ist eine klare Nacht. Der Mond scheint hell, und durch das Blätterdach der Bäume hindurch sind Tausende von Galaxien am Himmel zu erkennen.
Ich suche nach einem besonderen Platz, einem großen Ahorn, der den Himmel klein erscheinen lässt, ein Baum, der mich immer in Erstaunen versetzt, wenn ich an ihm vorbeikomme. Ich kann ihn vor mir sehen. Seine Blätter wiegen sich sacht im Wind. Wir erreichen den Baum, und ich setze mich im Schneidersitz auf den Boden.
Henry lässt sich vor mir nieder. »Also, was soll ich tun?«
Bitte, hasse mich nicht.
»Nichts. Hör einfach nur zu.«
Ich hole das Blatt Papier mit der Liste hervor, die ich heute Nachmittag geschrieben habe. Sie enthält nicht die ganze Wahrheit, denn das ist unmöglich, doch zumindest einen großen Teil. Meine schlimmsten Fehler stehen hier.
Ich nehme meinen iTouch in die Hand und drehe ihn um, so dass ich die harten Worte auf dem Blatt Papier lesen kann. Das Gerät leuchtet hell und hüllt mich in einen Kokon aus Licht. Fast kann ich mir vorstellen, allein zu sein.
Ich räuspere mich. »Das ist meine Beichte. Ich bin eine Lügnerin. Ich halte Menschen auf Abstand. Ich benutze Alkohol als Schutzschild. Ich habe meine Freunde betrogen. Ich habe Menschen betrogen, die nicht meine Freunde sind …«
Langsam lese ich weiter, bis ich das Ende der Seite erreicht habe, und lasse jeden Satz wirken. Dann drehe ich das Blatt um und lese alles vor, was ich auf die Rückseite geschrieben habe.
Henry lauscht. Ich höre seinen Atem, aber er sagt kein Wort.
Schließlich komme ich zum Ende. »Ich bin eine Lügnerin«, lese ich als Letztes vor. Das Letzte und das Erste ist dieselbe bittere Wahrheit.
Hast du es verstanden, Henry? Hast du es verstanden?
Mit der linken Hand entferne ich das Laub vom Boden zwischen uns. Ich schalte den iTouch aus und greife in meine Tasche, um das Feuerzeug herauszuholen, das ich mitgebracht habe. Ich halte die Flamme an das Papier und warte, bis es Feuer fängt.
»Hältst du das für eine gute Idee?«, sagt Henry.
»Schh.«
Die Flamme erfasst das Papier. Ich lasse es auf den Boden fallen und beobachte, wie das Feuer die Zeilen frisst, die ich geschrieben habe. Die verkohlten Reste lösen sich und schweben hinauf in die Bäume.
Ich sehe zu, bis alles verbrannt ist. Bis nichts mehr übrig ist.
»Und jetzt?«, fragt Henry.
Ich versuche, ihm in die Augen zu blicken, doch es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen.
»Jetzt vergessen wir, dass das hier je passiert ist.«
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20. Kapitel
Der Pawlowsche Schwachsinnsreflex
A m nächsten Morgen, nachdem die anderen in der Cafeteria für Amber und mich gesungen haben, suche ich Saundra in ihrem Büro auf, wo sie Papierkram erledigt. Sie sieht auf, als ich an die Tür klopfe.
»Ich bin nur gekommen, um mich zu verabschieden.«
Sie lächelt und legt ihren Stift zur Seite. »Ich bin froh, dass Sie das tun.«
»Und ich wollte mich bei Ihnen bedanken. Sie wissen schon … dafür, dass Sie mich ertragen haben und so weiter.«
»Es war mir ein Vergnügen. Viel Glück, Katie.«
»Danke.« Ich zögere. »Kann ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen?«
»Selbstverständlich.«
»Ich weiß, dass es vermutlich albern klingt, aber ich frage mich das schon eine ganze Weile …«
»Schießen Sie los.«
»Für wen ist das Hundehalsband?«
Saundras Lachen folgt mir den Flur entlang bis in die Lobby, wo Amber und Carol auf mich warten.
Während ich meine Entlassungspapiere unterschreibe, frage ich mich, ob Henry kommen wird. Doch da ist er schon und wechselt ein paar Worte mit Amber. Leise sagt er etwas zu ihr, das ich nicht verstehen kann, und sie schüttelt daraufhin den Kopf. Er wendet sich von ihr ab und sieht verärgert aus. Aber als er mich dabei ertappt, wie ich ihn beobachte, wirft er mir ein kleines Lächeln zu.
»Bist du fertig?«, fragt er und kommt auf mich zu.
»Ich denke
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