Sternschnupperkurs
Stock surrten. »Wer ist Sally?«
»Keine Ahnung.« Jaz zwinkerte ihr zu. »Wahrscheinlich noch eine meiner Exfrauen.«
Jerry Kessler genoss einen Kuriositäten-Status. Seine Geschäftstüchtigkeit war legendär, sein Gefühl für Musik reiner Instinkt. Im Laufe der vergangenen 15 Jahre hatte er KMC zu einem milliardenschweren Geschäft gemacht und einige der angesagtesten Bands unter Vertrag genommen. Doch mit seinen roten Wangen, seinem struppigen Haar und seiner ausgebeulten Cordhose sah er eher wie ein fideler Landmann aus, nicht wie der Besitzer eines ultra-erfolgreichen Plattenlabels.
Lucille konnte es immer noch nicht fassen, dass sie tatsächlich hier war, in diesem fußballfeldgroßen Büro, und die Hand von Mr. KMC höchstselbst schüttelte.
»Sie sind also diejenige, die es geschafft hat, Jaz wieder in sein Aufnahmestudio zu treiben. Großes Lob!« Jerry Kessler lächelte ihr anerkennend zu. »Also gut, hören wir uns die Sache an.«
Jaz reichte ihm den digitalen Stick. »Natürlich würden wir es neu einspielen. Ich will beim Titelsong ein Liveorchester.«
»Immer so bescheiden, so zurückhaltend.« Jerry grinste ihn an. »Wo wir gerade von zurückhaltend sprechen, wie geht es Suzy?«
»Glaub mir, das willst du nicht wissen. Chaos, wie immer. Und jetzt möchte ich dein ehrliches Urteil hören«, sagte Jaz, als Jerry die Daten hochlud.
»Vertrau mir«, machte Jerry ihn nach. »Wenn das Zeug, das du geschrieben hast, Mist ist, dann werde ich dir das auch sagen. Es ist sinnlos, deine oder meine Zeit zu vergeuden.«
Abergläubisch, wie sie war, hatte Lucille sich eingeredet, wenn sie sich für dieses Treffen besonders aufputzen würde, dann würde es schiefgehen. Um die Schicksalsgötter zu täuschen, trug sie daher ein verblasstes, graues Sweatshirt und uralte, schwarze Röhrenhosen. Im Vergleich zu Jerry Kessler mit seinem abgetragenen Karohemd und den schlammverspritzten Stiefeln wirkte sie jedoch absolut schick.
»Setzt euch, macht es euch gemütlich.« Jerry winkte sie zu einem riesigen, flaschengrünen Ledersofa.
»Danke, ich stehe lieber.« Lucille würde es nicht ertragen zu sitzen, sie war viel zu nervös. Sie fand die neuen Songs von Jaz phantastisch, aber nur auf Jerrys Meinung kam es jetzt an.
Jaz, der bis zu diesem Moment absolut entspannt gewirkt hatte, schob seine plötzlich zitternden Hände in die hinteren Taschen seiner Jeans und sagte: »Ich möchte auch lieber stehen.«
Jerry klickte die Daten an, und die ersten Töne von ›Miracle‹ füllten den Raum.
Gleich darauf drang Lucilles Stimme aus den Lautsprechern wie geschmolzene Schokolade.
I need to let you know
I can’t let you go
You leave me with no alternative …
Lucille wusste nicht mehr zu sagen, ob es gut war oder nicht. Doch wenigstens war dieses Band nicht verzerrt und sie klang nicht, als habe man sie in einen Schrank eingeschlossen.
Um 18 Uhr setzte Jerry Kesslers Privatchauffeur sie vor dem Bahnhof Paddington ab.
»Ich brauche den Zug nicht«, verkündete Lucille. »Wenn ich ein wenig mit den Armen wedele, dann kann ich wahrscheinlich nach Hause fliegen.«
Jerry war von den neuen Songs begeistert gewesen – ja,
begeistert
. Er war von ihrer Stimme begeistert gewesen. Er hatte einen Termin verschoben und sie zum Mittagessens ins San Lorenzo ausgeführt. Zurück im Hauptsitz von KMC , hatte er Dixon Wright, den Chef der Artists-&-Repertoire-Abteilung, in sein Büro gerufen, damit er sich den Song anhörte. Irgendwie wurden eine Band, ein Aufnahmestudio und ein hochrangiges Produktionsteam für den folgenden Morgen gebucht. Es wurde über schwindelerregende Summen gesprochen.
»Du bist wieder da«, hatte Jerry verkündet und Jaz auf den Rücken geschlagen wie ein Bauer, der seine preisgekrönte Jungkuh tätschelt.
»Lucille ist da«, hatte Jaz zu ihm gesagt und es irgendwie geschafft, unter dem Schlag nicht zu schwanken.
Und nun standen sie am Bahnhof.
»Wir könnten irgendwo einen Burger essen.« Lucille zeigte auf einen Imbissstand zu ihrer Rechten. Im San Lorenzo war sie viel zu aufgeregt gewesen, um etwas essen zu können, darum hatte sie mittlerweile einen Bärenhunger.
»Einen Burger.« Jaz sah sie an. In seinem Bauch machte sich ein merkwürdiges Gefühl breit. Nicht zum ersten Mal, wenn er ehrlich war. Und es handelte sich auch nicht um Hunger auf einen Burger.
»Es gibt auch einen Croissant-Stand, wenn dir das lieber ist. Wenn du richtig edel und mit Stil speisen willst.«
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