Sternschnupperkurs
Bahnen im Pool sollten ausreichen, um die endlose Gedankenschleifen in seinem Gehirn zu beenden. Vielleicht sechzig Bahnen – das würde ihn körperlich ermüden, und er wäre
gezwungen
zu schlafen.
Achtzig Bahnen später hievte sich Jaz aus dem schwach beleuchteten Pool. Seine Gedanken kreisten immer noch unablässig.
Mein Gott, es war, als sei er wieder in der Band und hätte bemerkt, dass ihm jemand aus Spaß Speed in den Drink gekippt hatte. Nur dass Drogen dieses Mal nichts damit zu tun hatten.
Stattdessen war die Ursache – wie Jaz kläglich einräumen musste – Lucille.
Tropfnass und nackt sah er zu den orangefarbenen Lichtern, die ihm vom Grund des Pools entgegenleuchteten.
Das Haus lag in völliger Stille.
Zu seiner Linken war die Tür, die ihn die Treppe nach oben ins Bett führen würde.
Direkt vor ihm lag der Pool, in den er noch einmal springen konnte. Weitere achtzig Bahnen würden ihm zweifellos den Rest geben. Mein Gott, dachte Jaz, und fuhr mit beiden Händen durch sein nasses Haar. Angesichts dieser Aussicht verzagte er beinahe. Wenn er so weitermachte, hätte er quasi die Strecke quer durch den Ärmelkanal in einer Nacht bewältigt.
Und dann war da die Tür rechts von ihm. Er musste nur den schmalen Korridor entlanggehen, der parallel zum Pool verlief, und die schwere Holztür am anderen Ende öffnen.
Sein Gehirn drängte ihn, das zu tun, merkte Jaz. Er wollte es tun. Aber er hatte Angst, dass es nur ein Trick sein könnte. Was, wenn sein Gehirn ihm das nur vorgaukelte, weil es unbedingt einen Drink wollte?
Das war verrückt,
verrückt
. Jaz biss die Zähne zusammen. Musik war die letzte Hürde. Also gut, er hatte dreieinhalb Jahre durchgehalten. Was hervorragend war, besonders wenn man die Tatsache berücksichtigte, dass er, falls er mit dem Trinken nicht aufgehört hätte, mittlerweile zweifelsfrei tot wäre.
Aber die Musik war sein Leben, sie bedeutete ihm mehr als fast alles andere. Ohne sie führte er eine unerfüllte Existenz. Seine Tage waren entsetzlich leer.
Aus diesem Grund verbrachte er so viel Zeit in diesem verdammt langweiligen Pool.
»Also gut«, sagte Jaz laut und hüllte sich wieder in seinen Bademantel. »Gehen wir.«
Wenn er nämlich nicht ging, bedeutete das im Grunde, dass das Trinken immer noch sein Leben ruinierte.
Als er durch den schmalen Korridor schritt, kam Jaz der Gedanke, dass das Aufnahmestudio vielleicht gar nicht mehr da war. Schließlich war er vor dreieinhalb Jahren zum letzten Mal dort gewesen.
Womöglich hatte Maeve das gesamte teure Equipment herausreißen und das Studio in eine Waschküche umbauen lassen.
Hatte sie nicht. Das Studio war noch da, unverändert, genau so, wie Jaz es in Erinnerung hatte.
Seine Hände zitterten, als er die schallisolierte Tür hinter sich schloss. Sein Herz pochte heftig gegen seine Rippen, sein Hals schrie automatisch nach einem Bourbon. Jaz setzte sich auf einen Drehstuhl vor das Mischpult.
Ein Teil von ihm hatte beinahe erwartet, das Studio würde jetzt Miss Havishams Esszimmer aus
Große Erwartungen
ähneln, überall zentimeterdick Staub und spektakuläre Spinnweben, die wie Vorhänge an jedem Mikrophon hingen.
Aber natürlich sah es überhaupt nicht so aus. Maeve, die nie erwähnt hatte, hierher zu kommen, hatte das Studio makellos sauber gehalten. Wie eine Mutter, deren Sohn das Elternhaus verlassen hatte, dachte Jaz und musste lächeln, hatte sie liebevoll sein Zimmer gereinigt und für ihn bereit gehalten, falls er sich eines Tages entschließen sollte, zu ihr zurückzuziehen. Was würden sie nur alle ohne Maeve tun?
Der Drang, aus dem Studio zu rennen, war fast übermächtig, aber Jaz war so weit gekommen und er wollte verdammt sein, wenn er jetzt aufgab. Er zwang sich, an Ort und Stelle zu bleiben, den Blick fest auf das Mischpult gerichtet. Als Nächstes fuhr er mit den Fingern über die Kontrollknöpfe.
Er brach in Schweiß aus. Die Verbindung zwischen dem Schreiben eines Songs und dem Konsum von Alkohol war so mächtig, dass er den Alkohol beinahe schmecken konnte. Er sehnte sich nach der Flasche Jack Daniel’s, die er immer dort drüben aufbewahrt hatte, auf der Konsole, in unmittelbarer Nähe seiner linken Hand.
Noch nie hatte er auch nur eine einzige Note nüchtern geschrieben.
Herrje, er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, überhaupt je eine Note geschrieben zu haben. Womöglich stammten alle seine Songs aus der Feder eines anderen.
Vielleicht waren sie von Maeve.
Okay,
Weitere Kostenlose Bücher