Sternstunde der Liebe (German Edition)
vergessen, hatte ihnen auch verheimlicht, dass sie hin und wieder mit einem Jungen und einer Decke zum Little Beach ging und dass sie einen für eine Kleinstadt ziemlich lockeren Lebenswandel führte.
»Weißt du, Quinn braucht möglicherweise keine weiterführende Schule – manche Menschen werden durch die formale Bildung in ihrer schöpferischen Fantasie gehemmt«, sagte ihr Vater nun. »Sie hat vielleicht das Zeug zur Malerin oder Schriftstellerin, Schauspielerin oder zum Seemann – irgendeine freiberufliche Tätigkeit, die den meisten Leuten in unserer Gegend eine Todesangst einjagen würde.«
Rumer sah zu, wie die Kaninchen aus ihrem Stollenbau unter dem Azaleenbusch auf dem Nachbargrundstück hervorkamen. Wie überall in den Gärten auf dem Kap begaben sich die Tiere in der Abenddämmerung auf Nahrungssuche.
Sie ertappte sich dabei, wie sie an ihre Schwester dachte – die ungezähmte Künstlerin. Unfähig, ihren Vater daran zu hindern, fortzusegeln und zu irgendjemandem außer Rumer eine innige Beziehung zu entwickeln, war Elizabeth zu der Schlussfolgerung gelangt, dass keines von beiden eine Rolle spielte. Der Alkohol hatte den Schmerz betäubt, aber auch zur Folge gehabt, dass ihre Noten schlechter wurden. Sie hatte die Schule abgebrochen, die Stadt verlassen und sich im Verlauf dieses Prozesses – beinahe gegen ihren Willen – zum Star gemausert. Sie hatte bewirkt, dass ihr Vater mächtig stolz auf sie war, mehr, als akademische Würden, Zertifikate oder Tierarztpositionen es jemals vermochten; Rumer vermutete, dass es ihm im Moment überhaupt nicht um Quinn ging.
»Hat Winnie dir gesagt, dass Zeb und Michael kommen?«, fragte sie fröstelnd; die Erinnerung an den Albtraum der letzten Nacht stieg wieder in ihrem Innern hoch.
»Sie erwähnte die Möglichkeit vor einiger Zeit. Ich weiß, ich weiß – schau mich nicht so an. Ich habe es nicht geglaubt, sonst hätte ich es dir erzählt. Wer hätte das auch gedacht, nach so langer Zeit.«
»Ich weiß.«
»Elizabeth hat bei unserem Telefongespräch letzten Samstag keinen Ton verlauten lassen. Sie dreht gerade in Toronto, dann geht es weiter nach Osten in die Maritimes; sie meinte, dass sie vielleicht auf einen Abstecher vorbeikommt …«
»Sie weiß es vielleicht selber nicht. Schließlich sind die beiden geschieden, Dad.«
»Du sagst es«, sagte ihr Vater mit versteinerter Miene und begann wieder zu schmirgeln. Als irischer Katholik widerstrebte es ihm, Elizabeths und Zebs Scheidung anzuerkennen. In Galway geboren, war er mit seiner Familie nach Halifax, Nova Scotia, gezogen, nachdem sein Vater – auf dem Totenbett, und ohne dass dieses Thema je zuvor zur Sprache gekommen wäre – seiner Frau das Versprechen abgenommen hatte, »alles zu verkaufen und nach Kanada auszuwandern«.
Eine mutige Frau: Als allein stehende Mutter hatte Una Wicklow Larkin Pioniergeist bewiesen, sich mit ihren Zwillingssöhnen eingeschifft und sie über das Meer gebracht. Sixtus hatte stets großen Respekt vor der Willensstärke und unerschöpflichen Energie seiner Mutter gehabt und seinen Töchtern beides vererbt.
»Ich freue mich, Michael wiederzusehen«, sagte er.
»Michael schon. Aber nicht seinen Vater.« Rumer schüttelte den Kopf.
»Hmmm.« Ihr Vater arbeitete unverdrossen an seinem Boot. Er hatte inzwischen einen Stock als Gehhilfe, den er aber kaum benutzte. Segeln war die einzige Möglichkeit, sich frei durchs Leben zu bewegen, so frei und behände wie in seiner Jugend, und Rumer wusste, dass er es kaum erwarten konnte, sein Boot zu Wasser zu lassen.
Doch nun war ihre Aufmerksamkeit von ihrem Vater abgelenkt, sie dachte an die Vergangenheit. Erinnerungen an Zeb überfluteten sie mit solcher Macht, dass ihr das Herz zu zerreißen drohte. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Sie hätte nicht sagen können, was qualvoller gewesen war: Zeb an ihre Schwester zu verlieren oder ihre Schwester an Zeb.
Sie wusste nur, dass danach eine ganze Welt für sie zusammengebrochen war. Sie hätte schwören mögen, dass der Himmel mit einem Mal von einem ganz anderen Blau war, dass die Rosen im Garten ihrer Mutter zu welken schienen. Am liebsten wäre sie gestorben, ein Wunsch, der einige Wochen anhielt.
Jetzt hob sie ihre Arzttasche auf, winkte ihrem Vater zum Abschied zu und ging den Hügel hinab. Es gab nicht mehr viel zu sagen.
Aber es gab viel, woran sie sich erinnerte.
In ihrem Pick-up, einen Korb mit Karotten und Äpfeln auf dem Beifahrersitz, folgte sie
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