Sternstunde der Liebe (German Edition)
gefühlt. Sie hatte die Papiere auf ihrem Schreibtisch angestarrt und sich gefragt, wozu sie gut sein sollten, wie sie dorthin gelangt waren. Ihr Herz schien langsamer zu arbeiten, als ob jeder Schlag tödlich enden könnte. Sie schlief den ganzen Tag. Sie lag die ganze Nacht wach. Sie stopfte eine Schüssel Cornflakes nach der anderen in sich hinein, mit viel Zucker und Vollmilch, bis die Packung leer war. Es kümmerte sie nicht, dass sie zunahm. Sich auch nur die Haare zu waschen, wurde für sie zu einer lästigen Pflicht.
Jener Sommer war der einzige in ihrem ganzen Leben gewesen, in dem sie keine Lust gehabt hatte, im Meer schwimmen zu gehen.
Ihre Jeans hatten nicht mehr gepasst. Ihr Gesicht wirkte kugelrund und aufgedunsen im Spiegel. Ihr graute davor, auch nur einen Schritt vor die Tür zu setzen. Sie mied die Fenster, die sich gegenüber Zebs befanden, hielt sich ausschließlich in den Räumen auf, die nach Norden hinausgingen.
Ihre Eltern hatten sich Sorgen um sie gemacht, aber sie stellte sich taub. Sie hatten vor, an der Hochzeit teilzunehmen. Da sie sich laut über den Ablauf unterhielten – dass ihr Vater Elizabeth dem Bräutigam zuführen würde und ihre Mutter sich ein elegantes Kleid für den Anlass zu kaufen gedachte –, hatte Rumer es nicht ertragen können, wenn sie sich erkundigten, wie es ihr ging, ob sie einen Arzt brauche oder ob sie nicht schwimmen gehen wolle.
Und dann kam die Mitteilung, dass sie zum Studium an der Tufts University zugelassen worden war.
Sie war ihr wie ein Rettungsring vorgekommen, der einer Ertrinkenden zugeworfen wurde. Sie hatte ihn mit letzter Kraft ergriffen. Sie würde Tierärztin werden! Dass sie sich mehr als alles in der Welt wünschte, Zeb die Neuigkeit zu erzählen, zerriss ihr das Herz. Sie hatte die ganze Nacht geweint und war untröstlich gewesen.
Sie dachte an die Natur, ihre gemeinsame große Liebe. An den Himmel und die Erde, die sie im Gleichgewicht gehalten hatten. Der Himmel mit seinen Gestirnen war sein Reich gewesen, das Reich der Tiere das ihre. Sie dachte daran, was sie empfunden hatte, als er seine Arme um ihre Schultern gelegt hatte, welche Gefühle in ihren Körpern entbrannt waren, als sie beinahe eins geworden wären.
Ein einziges Mal, und sie waren nahe daran gewesen, aber es war nicht dazu gekommen, zu diesem bedeutsamen Augenblick, der zur glückseligsten Zeit ihres Lebens geführt hätte.
Rumer hütete diese Erinnerung wie einen verborgenen Schatz. Ihre schöne Schwester, die Schauspielerin, wusste nicht, was Zeb und sie miteinander verband. Im Vergleich zu Elizabeth war sie sich, vor allem nach ihrer Gewichtszunahme, wie ein hässliches, fettes, verbittertes, einsames, abgehalftertes, rachsüchtiges Weib vorgekommen – das ihren verborgenen Schatz mit Argusaugen bewachte.
Sie hätten um ein Haar miteinander geschlafen. Es wäre dazu gekommen, wenn sie sich, wie geplant, am Indian Grave getroffen hätten.
Sie würde es ihnen schon zeigen, schwor sie sich, und überhaupt, Elizabeth und Zeb konnten ihr gestohlen bleiben. Sie würde ihren Weg auch ohne sie machen. Sie brauchte keinen Zeb Mayhew, um ihre Träume zu verwirklichen. Sie würde an der Tufts studieren, der besten Universität weit und breit, würde Tierärztin werden.
In der Woche vor der Hochzeit war Rumer mit ihren Siebensachen nach North Grafton, Massachusetts, umgezogen, in den zweiten Stock eines viktorianischen Hauses, das sich bei den Studenten großer Beliebtheit erfreute. Am Hochzeitstag selbst hatte sie ihren neuen Nebenjob in einer nahe gelegenen Tierklinik angetreten.
Zwei Tage zuvor war ein Hund, eine Mischung aus Schäferhund und Labrador, auf einer Straße außerhalb von Boston von einem Auto angefahren worden; der Fahrer hatte das schwer verletzte Tier einfach liegen lassen. Der Besitzer hatte es gefunden und in die Tierklinik geschafft, wo man es so gut es ging zusammenflickte. Rumer hatte an ihrem ersten Arbeitstag den Auftrag erhalten, die Fußböden zu wischen und die OP-Tische aus Edelstahl zu säubern. Doch als sie den Zwinger betreten und der Hund mit verhangenen Augen zu ihr hochgeblickt hatte, war sie auf die Knie gesunken.
Sie hatte die Hand gegen den Maschendraht des Käfigs gelegt. Der Tierarzt hatte gesagt, dass der Hund höchstwahrscheinlich seinen Verletzungen erliegen würde, aber der Besitzer habe darum gebeten, alles Menschenmögliche zu tun. Sie hatte sich nicht vom Fleck gerührt, während der sterbende Hund ihre Hand leckte.
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