Sterntagebücher
Generationen werden begreifen, daß Jeremias im Namen der Menschheit dreinschlug. Er wollte die Materie an den Rand ihrer Möglichkeiten bringen, wollte sie ermüden, das ultimative Wesen aus ihr herausschlagen und sie auf diese Weise besiegen. Was sollte folgen? Die völlige Anarchie der Niederlage, die physikalische Gesetzlosigkeit? Oder etwa die Entstehung neuer Gesetze? Wir wissen es nicht. Das werden nur jene erfahren, die einst in die Fußtapfen meines Vorfahren Jeremias treten.
Am liebsten hätte ich damit seine Geschichte beendet, aber wie soll ich nicht hinzufügen, daß die Verleumder auch danach das Blaue vom Himmel herunterlogen und behaupteten, er habe sich im Keller vor seiner Frau oder vor den Gläubigern versteckt. Da sieht man, wie die Welt den Außergewöhnlichen ihre Größe lohnt.
Der nächste, von dem die Bücher berichten, ist Igor Sebastian Tichy, ein Sohn des Jeremias, Asket und Kybermystiker. Mit ihm endet der irdische Zweig unseres Geschlechts, denn von da an haben sich alle Nachkommen des Anonymus auf die Milchstraße begeben. Igor Sebastian war eine kontemplative Natur, und nur deshalb, nicht aber wegen einer Unterentwicklung, derer man ihn bezichtigte, sprach er zum ersten Mal in seinem elften Lebensjahr. Wie jeder große Denker und Reformator, der mit kritischem Auge den Menschen von neuem erfaßt, tat er dies und gelangte zu der Überzeugung, daß die Quelle des Übels die tierischen Überbleibsel in uns seien, verderblich gleichermaßen für das Individuum wie für die Gesellschaft. Darin, daß er dem Dunkel der Triebe die Helligkeit des Geistes gegenüberstellte, lag noch nichts Neues, doch Igor Sebastian ging einen Schritt weiter, als seine Vorläufer es gewagt hatten. Der Mensch, sagte er sich, muß mit dem Geist dort eindringen, wo bisher nur der Körper geherrscht hat. Da er ein äußerst begabter Stereochemiker war, schuf er nach vielen Jahren der Forschung eine Substanz in der Retorte, die seine Träume in die Wirklichkeit umsetzte. Ich meine – wie könnte es anders sein – das berühmte Ungemütran, eine Pentasolidinableitung des Biallyloorthopentanoperhydrophenantrens. Das für die Gesundheit unschädliche Ungemütran bewirkt, nimmt man es in mikroskopischen Mengen ein, daß der Prokreationsakt, im Gegensatz zu frü her, über die Maßen unangenehm wird. Dank einer Prise des weißen Pulvers blickt der Mensch nun ungetrübt vom Verlangen auf die Welt und entdeckt in ihr die eigentliche Hierarchie der Dinge, denn er wird nicht mehr alle Augenblicke vom tierischen Trieb geblendet. Ledig der Sklaverei des Geschlechts, die von der Evolution geschaffen wurde, gewinnt er viel Zeit. Er streift die Fesseln der sexuellen Entfremdung ab und wird endlich frei; denn die Fortsetzung der Art sollte das Ergebnis einer bewußten Entscheidung sein, Ausdruck des Pflichtgefühls gegenüber der Menschheit und nicht willkürliches Resultat des Nährens obszöner Begierden. Igor Sebastian beabsichtigte zunächst, den Akt der körperlichen Verbindung neutral zu machen, aber er erkannte, daß dies nicht genügte, denn zu viele Dinge tut der Mensch nicht einmal wegen des Vergnügens, sondern einfach aus Langerweile oder aus Gewohnheit. Jeder Akt sollte von nun an ein Opfer sein, das man auf dem Altar des gesellschaftlichen Nutzens darbrachte, ein freiwillig auf sich genommenes Leiden; jeder Zeugende ging, dank dem bewiesenen Mut, in die Reihe der Helden ein, wie all jene, die sich für andere aufopfern. Als wahrhafter Forscher erprobte Igor Sebastian die Wirkung des Ungemütrans zuerst an sich selber, und um zu beweisen, daß man auch nach Einnahme beträchtlicher Dosen noch eine Nachkommenschaft haben könne, zeugte er unermüdlich, mit höchster Selbstverleugnung dreizehn Kinder. Seine Frau, heißt es, sei häufig aus dem Haus geflohen – darin steckt ein Körnchen Wahrheit, doch die Hauptursache für die ehelichen Zwistigkeiten waren, wie zu Lebzeiten des Jeremias, die Nachbarn. Sie wiegelten die nicht gerade aufgeweckte Frau gegen ihren Mann auf, indem sie Igor Sebastian der Mißhandlung seiner Frau ziehen, obwohl er ihnen immer wieder erklärte, daß er sie keineswegs quäle, sondern daß der bewußte Akt, der nun eine Quelle der Leiden sei, sein Haus zur Heimstatt des Lärmens und Stöhnens mache. Was tun, wenn die Engstirnigen wie Papageien ihren Salm wiederholten: Der Vater habe die Elektronenhirne gezüchtigt, der Sohn züchtige seine eigene Frau. Doch das war nur der Prolog der
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