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Sterntagebücher

Sterntagebücher

Titel: Sterntagebücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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vermochte uns von jenem früheren zu befreien.
      Während ich so – über die Äste des Stammbaums – zu den modernen Zeiten vordringe und mich meinem eigenen Anfang nähere, wird meine Aufgabe, Chronist des Geschlechts zu sein, immer schwieriger, nicht nur weil es leichter ist, die einstigen Vorfahren, die ein seßhaftes Leben geführt haben, zu porträtieren als ihre Sternnachfahren, sondern auch deshalb, weil sich im Vakuum ein bislang unbegreiflicher Einfluß physikalischer Erscheinungen auf das Familienleben offenbart. In meiner Ratlosigkeit angesichts der Dokumente, die ich nicht gehörig ordnen kann, verzichte ich auf jegliche Reihenfolge und stelle sie einfach so vor, wie sie erhalten geblieben sind. Hier nun die von der Geschwindigkeit angesengten Seiten eines Reisetagebuches, das der Kapitän der Sternfliegerei Auror Tichy geführt hat:
       Eintragung 116 303. Seit wie vielen Jahren schon kennen wir keine Schwerkraft mehr! Die Wasser- und Sanduhren gehen nicht, die Waagenuhren sind stehengeblieben, bei den Uhren zum Aufziehen verweigern die Federn den Dienst. Eine Zeitlang haben wir die Kalenderblätter nach Gutdünken abgerissen, aber auch das ist schon Vergangenheit. Geblieben sind uns als letzte Richtschnur Frühstück, Mittagessen und Abendbrot, aber schon die erste Verdauungsstörung vermag auch diese Zeitrechnung umzustoßen. Ich muß meine Eintragung unterbrechen, jemand ist hereingekommen, entweder sind es die Zwillinge, oder es ist eine Lichtinterferenz.
       Eintragung 116 304. Backbord ein Planet, der nicht auf den Karten vermerkt ist. Etwas später, während der Vesperzeit, ein Meteor, zum Glück ein kleiner, der uns drei Kammern durchschlagen hat – die Druckkammer, die Häftlingskammer und die Ausnüchterungskammer. Ich ordnete an, die Löcher zu zementieren. Beim Abendbrot fehlte Vetter Patricius. Gespräch mit Großvater Arabeus über die Unbestimmbarkeitsrelation. Was wissen wir eigentlich ganz gewiß? Daß wir als junge Leute von der Erde abgereist sind, daß wir unser Schiff »Kosmoszyste« genannt haben, daß der Großvater und die Großmutter zwölf andere Ehepaare an: Bord genommen haben, die heute schon eine durch die Bande der Blutsverwandtschaft geeinte Familie bilden. Ich mache mir Sorgen wegen Patricius – auch die Katze ist irgendwohin verschwunden. Ich habe einen positiven Einfluß des Gravitationsmangels auf Plattfüße bemerkt.
       Eintragung 116 305. Der Erstgeborene von Onkel Obrozy ist so scharfsichtig und noch so klein, daß er mit bloßem Auge Neutronen wahrnimmt. Ergebnis der Suche nach Patricius negativ. Wir erhöhen die Geschwindigkeit; während des Manövers haben wir mit dem Heck die Isochrone durchschnitten. Nach dem Abendbrot kam Obrozys Schwiegervater Amphoterik zu mir und gestand, daß er sein eigener Vater geworden sei, weil seine Zeit sich zu einer Schleife gekrümmt habe. Er bat, niemandem etwas davon zu erzählen. Ich konsultierte meine Vettern, beides Physiker – sie sind ratlos. Wer weiß, was uns noch alles bevorsteht!
       Eintragung 116 306. Ich habe bemerkt, daß die Kinnpartien und die Stirnen bei einigen älteren Onkeln und Tanten zurückweichen. Ein Effekt der giroskopischen Rezession, eine Lorentz-FitzGerald-Verkürzung oder die Folge von Zahnausfall und häufigen Stoßens mit der Stirn gegen die Spanten, wenn der Gong ertönt, der zu Tisch ruft? Wir rasen an einer beträchtlichen Nebelwolke entlang. Tante Barabella hat unseren weiteren Kurs auf ihre Art gedeutet, aus dem Kaffeesatz. Ich habe die Berechnungen mit dem Elektrokalkulator überprüft – ein durchaus angenähertes Ergebnis!
       Eintragung 116 307. Kurzer Aufenthalt auf dem Planeten der Rumtreiber. Vier Personen sind nicht an Bord zurückgekehrt. Beim Start linke Antriebsdüse verstopft. Befahl, sie durchzupusten. Der arme Patricius! In der Rubrik »Todesursache« habe ich eingetragen: »Zerstreutheit« – was sonst?
       Eintragung 116 308. Onkel Timotheus hat geträumt, daß uns Plünderer überfallen hätten. Zum Glück ging es ohne Opfer und Verluste ab. Es wird eng in unserem Raumschiff. Heute drei Geburten und vier Umzüge, eine Folge der Scheidungen. Das Kind der Obrozys hat Augen wie Sterne. Zur Verbesserung der Raumverhältnisse habe ich allen Tanten empfohlen, sich in die Hibernationskühlschränke zu begeben. Ich hatte erst Erfolg, als ich das Argument vorbrachte, daß sie im Zustand des umkehrbaren Todes nicht altern würden. Jetzt ist es still und

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