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Sterntagebücher

Sterntagebücher

Titel: Sterntagebücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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hundert oder zweihundert Milliarden Erscheinungen entsprechen, mit denen ein Mensch in einem an Eindrücken sehr reichen Leben konfrontiert werden kann. Wenn Sie die Hülle der Trommel hochheben, sehen sie nur glänzende Bänder, bedeckt mit weißen Zickzacklinien, wie Schimmel auf Zelluloid, aber das sind, Tichy, die heißen Nächte des Südens und das Rauschen der Wellen, die Formen tierischer Leiber und Schießereien, Begräbnisse und Zechereien und der Geschmack von Äpfeln und Birnen, Schneewehen, Abende, die man im Familienkreis am brennenden Kamin verbringt, und das Geschrei an Deck eines untergehenden Schiffes und die Konvulsionen einer Krankheit. Das sind die Gipfel der Berge und Friedhöfe und die, Halluzinationen Phantasierender – Ijon Tichy: Dort ist die ganze Welt!«
      Ich schwieg, und Corcoran, der mich mit eisernem Griff am Arm gepackt hatte, sagte: »Diese Kisten, Tichy, sind an eine künstliche Welt angeschlossen. Dieser hier«, er deutete auf die zunächst stehende, »scheint es, sie sei ein siebzehnjähriges Mädchen, grünäugig, mit rotblondem Haar, mit einem Körper, der einer Venus würdig wäre. Sie ist die Tochter eines Staatsmanns… Sie liebt einen Jüngling, den sie fast jeden Tag durchs Fenster sieht und der ihr Fluch sein wird. Die nächste ist ein Gelehrter. Er ist schon der allgemeinen Gravitationstheorie nahe, die in seiner Welt verbindlich ist, in dieser Welt, deren Grenzen die eisernen Wände der Trommel sind, und er bereitet sich zum Kampf um seine Wahrheit vor, in einer Vereinsamung, die durch die ihm drohende Blindheit noch größer wird, denn er wird erblinden, Tichy… Und dort, darüber, ist das Mitglied eines Priesterkollegiums, ein Mann, der seine schwersten Tage erlebt, denn er hat den Glauben an die Existenz seiner unsterblichen Seele verloren. Daneben, hinter der Einfriedung, steht…. aber ich kann Ihnen nicht das Leben aller Wesen, die ich geschaffen habe, erzählen…«
      »Darf ich Sie unterbrechen?« fragte ich. »Ich hätte gern gewußt…«
      »Nein! Sie dürfen nicht!« brüllte Corcoran. »Niemand darf! Jetzt rede ich, Tichy! Sie begreifen noch nichts. Sie denken sicherlich, daß dort in dieser Trommel verschiedene Signale festgehalten sind, wie auf einer Grammophonplatte, daß die Ereignisse so wie eine Melodie angeordnet sind, mit allen Tönen, und nun warten, wie die Musik auf der Platte, daß eine Nadel sie belebt, daß diese Kästen lediglich Komplexe von Erlebnissen nachgestalten, die bereits von vornherein bestimmt sind. Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!« rief er durchdringend, daß es von der blechernen Decke nur so widerhallte. »Der Inhalt dieser Trommel bedeutet denen dort, was Ihnen die Welt, in der Sie leben, bedeutet! Es fällt Ihnen doch nicht ein, wenn Sie essen, schlafen, aufstehen, reisen, alte Sonderlinge besuchen, daß das alles eine Grammophonplatte ist, deren Berührung Sie Gegenwart nennen!«
      »Aber…«, versetzte ich.
      »Schweigen Sie!« donnerte er. »Unterbrechen Sie mich nicht! Ich rede!«
      Im stillen dachte ich mir, daß jene, die ihn einen ungehobelten Klotz nannten, nicht so unrecht hatten, aber ich mußte aufpassen, denn das, was er sagte, war wirklich unerhört.
      »Das Schicksal meiner eisernen Kästen«, schrie er, »ist nicht bis zum Schluß vorher bestimmt, denn die Ereignisse dort in der Trommel sind auf Reihen paralleler Bänder gebannt, und nur ein entsprechend der Regel des blinden Zufalls wirkender Selektor entscheidet, aus welcher Bandreihe der Rezipient der Sinneswahrnehmungen einer bestimmten Kiste im nächsten Augenblick die Inhalte aufnehmen wird. Natürlich ist das nicht so einfach, wie ich es hier schildere, denn die Kisten können bis zu einem gewissen Grade selbst auf die Bewegungen des Sammlers Einfluß nehmen; eine absolute Zufallsselektion tritt nur dann ein, wenn die von mir Geschaffenen sich passiv verhalten – denn sie haben einen eigenen Willen, dem nur die gleichen Schranken gesetzt sind wie uns: die eigene Persönlichkeitsstruktur, Leidenschaften, angeborene Gebrechen, die äußeren Bedingungen, der Intelligenzgrad – ich kann hier nicht auf alle Einzelheiten eingehen…«
      »Wenn es so ist«, warf ich rasch ein, »wie sollten sie dann nicht wissen, daß sie eiserne Kisten sind und nicht ein rotblondes Mädchen oder ein Prie…«
      Soviel vermochte ich vorzubringen, ehe er mich unterbrach: »Stellen Sie sich nicht dumm, Tichy. Sie setzen sich aus Atomen

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