Sterntaler: Thriller (German Edition)
hatten.
Unruhe packte sie. Sie durften einfach nicht aufgeben, sie mussten weitergraben, bis all der Schmutz, der dort verborgen lag, ans Tageslicht kam.
Es klopfte an Theas Tür, und die neue Schwester, die sich nicht zu benehmen wusste, kam herein. »Guten Morgen!« Ihre Stimme war so grell, dass sie damit vermutlich Fensterscheiben zum Zerspringen bringen konnte. »Sie haben Besuch.«
Sie trat zur Seite, und hinter ihr wurde eine lange Gestalt sichtbar.
»Guten Morgen«, sagte Torbjörn Ross. »Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie beim Frühstück störe.« Er lächelte der Krankenschwester zu, als sie das Zimmer verließ.
Dass er es über sich brachte! Und dass er die Befugnis hatte! Aber die hatte er wahrscheinlich gar nicht.
Kriminalkommissar Torbjörn Ross war krank, das hatte Thea schon vor langer Zeit begriffen. Seine wiederkehrenden Besuche waren zunächst eine Qual gewesen, doch im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, dass es das Beste war, ihn ganz einfach zu ignorieren.
Wie gewöhnlich zog er einen Stuhl heraus und setzte sich neben sie. Zu nah. Als würde es nicht reichen, dass sie ihn hörte, nein, sie musste auch noch seine Nähe spüren.
Thea sah unverwandt zum Fernseher und aß weiter.
»Wie ich sehe, verfolgen Sie die Nachrichten über Rebecca Trolle«, sagte Torbjörn Ross. »Das kann ich gut verstehen.« Er thronte wie ein König auf dem Stuhl, die Hände immer noch in den Taschen. »Meine Kollegen werden Sie bestimmt auch noch besuchen. Sie wissen, dass Trolle und Sie sich getroffen haben. Das stand im Kalender des Mädchens.«
Thea erinnerte sich an den Besuch, die eifrigen Fragen. »Sie können freikommen«, hatte sie gesagt und von einem Wiederaufnahmeverfahren gesprochen. »Es ist nicht gerecht, dass Sie hier so einsam und vergessen dasitzen.«
Es war ihr ein Rätsel, wie Rebecca Trolle an ihre Informationen gelangt war. Sie wusste bei Weitem nicht alles, aber doch genug.
»Die Schwester hat mir erzählt, dass Sie vorige Woche einen üblen Husten hatten«, sagte Torbjörn Ross. Er sah besorgt aus. »Sie sind keine junge Frau mehr, Sie müssen auf sich Acht geben.«
Sein Atem stank nach Snus. Sie musste die Luft anhalten.
»Dieses Schweigen, Thea.« Er schüttelte mitleidig den Kopf. »Wenn Sie nur Ihr Herz ausschütten wollten! Wir stünden alle bereit zuzuhören und Ihnen zu helfen.«
An dieser Stelle hätte sie gern den Kopf gedreht und ihn angesehen, doch sie zwang sich dazu, weiter zu frühstücken. Wer waren denn jene »alle«, die ihr helfen wollten? In all den Jahren, die vergangen waren, hatte nie jemand anders als Torbjörn Ross sie besucht. Die anderen Polizisten scherten sich nicht länger um sie. Sie waren zur Tagesordnung übergegangen. Der Fall ihres verschwundenen Sohnes wurde als unlösbar betrachtet. Was ihn betraf, hielt man sie für unschuldig. Nur Torbjörn Ross nicht, der lieber urteilte als freisprach. Der eine Besessenheit für den Fall entwickelt hatte, die ihr Angst machte.
Sie erinnerte sich noch gut an ihr erstes Treffen. Sein Blick war anders gewesen, das hatte sie sofort erkannt. Verschleiert und unklar, böse auf eine Weise, die vermutlich nur wenige begriffen. Damals war er jung gewesen, eifrig und ungeduldig, während die anderen Polizisten die Vernehmungen abschließen wollten. Seine Rolle war es gewesen dazusitzen und zuzuhören, die älteren Kollegen zu beobachten.
Sie hatte ihn schweigend beobachtet. Hatte die Verachtung gesehen, die er seinen Kollegen gegenüber ausstrahlte. Er saß stets an der Wand, hinter den anderen, die Arme vor der Brust verschränkt und mit einem Zorn, der den ganzen Raum ausfüllte.
Dann sein erster Besuch in ihrer Zelle. Erst hatte sie Angst gehabt und gefürchtet, dass er gekommen wäre, um ihr wehzutun. Doch er wollte nur reden. »Ich weiß, dass Sie es wissen«, sagte er, »und wenn es ein Leben lang dauern wird– ich werde Sie dazu bringen, es zu erzählen, damit wir anderen es auch wissen. Der Junge wird wieder auftauchen. Ganz sicher.«
Viele Male hatte sie darüber nachgedacht, ob sie ihn vielleicht kennen müsste. War er eine Bekanntschaft von früher? Jemand, mit dem sie aneinandergeraten war? Wenn nicht, warum zum Teufel scherte er sich immer noch um sie? Warum bedeutete sie diesem Polizisten so viel?
Nach bald drei Jahrzehnten seiner Besuche meinte sie, die Antwort auf die Frage gefunden zu haben. Torbjörn Ross war verrückt. Wenn Thea nicht aufpasste, dann konnte er ihr ohnehin schon elendes
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