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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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Familie. Er ist ein Kollege, verdammt noch mal, aber trotzdem kein bißchen kooperativ. Wie formulierte man das um ins Pagelsdorfer Deutsch? Er erwähnte, daß seine Mutter Blumen auf das Bett des verstorbenen Geliebten legte – Liebe Kollegin, bitte halten Sie sich an das Wesentliche.
    Tu ich doch. Vielleicht waren ihre Gefühle das Wesentliche, und vielleicht waren sie grenzenlos, ihre Liebe, ihre Trauer und später ihr Haß. Das Herz ist die Wildnis, hatte sie gesagt, das klang zuerst mal ziemlich blöd, doch in der Wildnis kommst du ja um, wenn du nicht gerüstet bist.
    Ina rechnete nach – es mußte wohl zu jener Zeit gewesen sein, als die Kammer ihre Kinder zu den Tillmanns brachte, als sie selber Sunny auf der Bühne sah, Sunny und das andere Leben. Damals hatten all ihre Träume sich darum gedreht, wie Sunny-Sigrid zu sein, und eine Weile trug sie auch die gleichen Klamotten, schwarz, bis der Arzt kam. »Da sieht man doch nie«, hatte ihre Mutter sich beschwert, »daß du dich auch mal umziehst, du siehst doch aus, als trägst du jeden Tag dasselbe.« Doch auch die Partynächte hatte sie damals entdeckt, als man auf das Wochenende wartete und darauf hoffte, der Montag würde abgeschafft. Zu fünft in einen kleinen Wagen gepfercht, rasten sie jeden Freitagabend in die Stadt, um montags träge und mit dicken Augen in der Schule zu hocken und an die Stunden zu denken, die man nur mit Tanzen verbrachte, mit dumpfen Rhythmen, Schmusen und Wein. Mit Jungs, die immer hübscher wurden, und mit Mädels, denen man erzählte, was die hübschen Jungs schon alles konnten.
    Kein Gedanke an den Tod, damals nicht. Keine Ahnung von kaputten Körpern, zerstörten Gesichtern und Augenhöhlen voller Blut, von Löchern, Kratern, Maden im Fleisch, nur das federleichte Gefühl, schon von Winzigkeiten halb besoffen zu sein. Das hatten die beiden doch auch gewollt, nicht wahr? Sunny, die davon sang, und die Kammer, als sie sagte, sie wolle Glück in den Körper pumpen und kein Leben, an dessen Ende alle Jahre gleich gewesen
     
    Ina stützte beide Arme auf den Tresen und verfolgte mit den Augen ein dünnes Rinnsal Bier, das sich hinter einem übervollen Aschenbecher seinen Weg zu bahnen begann. Hast es durchziehen wollen, ja? Waren deine Kinder dir im Weg?
    Du hast ja keine Ahnung. Hattest nie einen Dienstplan im Hirn und den Dreck vor Augen, in dem du wie ein Maulwurf wühlst. Manchmal, wenn ihr einfiel, daß sie vermutlich noch fast dreißig Jahre damit zubringen mußte, im Dreck zu wühlen, sah sie nur ein schwarzes Loch, aber kein Mensch konnte in schwarze Löcher blicken, ohne Angst zu kriegen oder zumindest schlechte Laune.
    »Werd vernünftig«, hatte ihre Mutter früher gesagt, als sie aus allen erreichbaren Frauenzeitschriften die schönsten Models ausschnitt, um sie in Gedanken neu einzukleiden, werd vernünftig, aber ja. Mit Siebenmeilenstiefeln war die Vernunft über sie hinweggetrampelt und hatte sie zur Beamtin gemacht, die sich jeden Morgen um sieben aus dem Bett quälte, Überstunden schob, in tote Augen sah und die Lügen der Lebenden hörte – das waren die Tage, grob skizziert, und die Nächte? Es gab kaum noch Partys, und wenn es welche gab, quasselte man ein bißchen und aß in der Küche Nudelsalat. Es waren immer dieselben Küchen. Manchmal war es auch Reissalat. Hatte man nichts vor am Samstagabend, guckte man ein Video, Star Trek oder einen Film, den man im Kino verpaßt hatte, man verpaßte ja fast alles. Ich muß früh raus, ich brauch meinen Schlaf, wann hatte sie sich denn diesen Satz angewöhnt? Kein drittes Glas Wein, gibt Kopfweh sonst, im Urlaub höchstens mal nach Thailand, dann aber geimpft. Wenn sie ab und zu im Bett von Tommy etwas wollte, das über das hinausging, was sie das Übliche nannte, schien er zu erschrecken, und sie meinte in sein Hirn fast hineingucken zu können – wieso, weshalb, weswegen jetzt? War doch gut bisher.
    Sicher, klar, aber es gibt doch noch mehr. Weiß selber nicht so genau – aber du kannst doch nicht jeden Tag dasselbe essen, auch wenn’s dir super schmeckt.
    Meistens senkte er dann den Kopf und sie sah ihm ein paar elend lange Sekunden beim Grübeln zu, bis sie sagte, nee, laß mal. Man konnte sich doch arrangieren, oder? Man mußte ja nicht alles haben.
    Die andere hatte alles gewollt, nicht wahr? Und sie hatte verloren, ihre Kinder, den Geliebten, ihren Ruhm und den Anstand wohl, wie sollte man es nennen – das Menschliche. Hatte sie den einen Sohn getötet

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