Sterntaucher
er sich nicht richtig orientieren können, hat es ausgesehen, als wär er lange nicht da gewesen. Das ist so eine versteckte Stelle, weißt du, Erde, wie ein Grab. Da hat er mit den Fingern drin rumgespielt, und es hat sich angehört, als rede er mit jemand – da unten. Und dann hat er so ein Kreuz draufgemalt.« Sie zeichnete es mit einem Finger in die Luft. »Ein Kreuz.«
Wie in Zeitlupe schüttelte Nicole den Kopf. »Du glaubst doch nicht im Ernst, der hat da jemanden begraben? Wer soll denn da liegen?«
»Seine Mutter.« Ina drehte sich zum Fenster. Verschwimmende Lichter brannten in den Augen, und das Geräusch schließender Autotüren schmerzte hinter der Stirn.
»Das hieße, er hätte sie umgebracht«, sagte Nicole. »Ina, wir sind doch nicht in Psycho. «
»Wir finden sie ja nicht.« Als sie mit zwei Fingern auf die Fensterbank klopfte, sang ein böser Teufel den Text dazu: Tot-tot-tot. »Was meinst du mit Psycho?«
»Hitchcock, den Film.« Nicoles Stimme hörte sich kratziger an. »Aber da war die Mutter nicht begraben, da saß sie im Keller.«
»Hm, stimmt«, sagte Ina. »Ich weiß jetzt.«
»Der Schluß, kannst du dich erinnern? Zuerst war sie ja nur von hinten zu sehen, mit dieser Perücke –«
»Ja«, sagte Ina, »ja, ja.«
»Und dann dreht er sie um, und man sieht dieses Skelettgesicht, das war –«
»Ja, verdammt, hör auf. «
Eine Weile blieb es still, bis Nicole leise sagte: »Du hast sie doch gar nicht gekannt.«
»Doch«, murmelte Ina. »Irgendwie schon.«
Vielleicht hatte sie mit dem Kennenlernen auch gerade erst angefangen, als sie versuchte, ein paar ihrer Wege zu gehen. Ina legte einen Finger auf die schwarze Fensterscheibe und zeichnete das Licht nach, das ein parkplatzsuchender Wagen aufs Pflaster warf. Am Sonntag zuvor war sie mit Tom in jenem Dorf gewesen, in dem Katja eine Weile lebte. Sie suchte ihre Spuren, als sie an den Feldern vorbei und über saubergekehrte Straßen gingen, auf denen die Bewohner in kleinen Grüppchen beieinanderstanden. Hatten die schon immer diesen forschenden Blick gehabt, der das Fremde ausschloß, sobald er es erkannte? Hier gab es noch die feine Sonntagskleidung, mit der die Leute sich zum Kirchgang schmückten, bevor sie geschlossen ins Wirtshaus marschierten, ein kleines Ritual, das Ina an ihre Jugend in der Provinz erinnerte. Früher hatte sie Sonntage gehaßt, weil sie glaubte, es müsse ein Sonntag sein, an dem die Welt in aller Stille starb, und sie war sicher, daß es Jahre später der Kammer genauso ging. Hier war sie gelaufen, mit Christian und den Kindern an diesen dunkelgekleideten Menschen vorbei, und hatte wohl über die Handtäschchen gelacht, die die Frauen gegen die Bäuche preßten, damit man sah, wie gut sie zu den schrecklichen Schuhen paßten.
»Ist doch schön hier«, sagte Tom. »Suchste was Bestimmtes?«
Ja, ich such ein anderes Leben. Sie schüttelte den Kopf und drückte sich enger an ihn, während sie das Haus suchte und diese schmale, kleine Straße, auf der das Foto entstanden war, das Dorian das Sternenbild nannte. Es war ein friedlicher, schöner Tag, an dem man nichts hörte außer Kirchenglocken und leiser Musik, die aus geöffneten Fenstern drang. Tom legte einen Arm um ihre Schulter und erzählte von dem polnischen Hof, auf dem er aufgewachsen war; nichts Großes, bloß eine Scheune und paar Fleckchen Gras drumherum, wie hier. Nur ein paar Quadratmeter Land mit einem harten, störrischen Boden, der nichts abwarf und den sie verfluchten jeden Tag. Sie waren zu zehnt und besaßen drei Hunde, eine magere Kuh und zwei Stiere. Sie war auch die einzige, die gut dran war, die Kuh, weil sie Glück hatte und sich aussuchen konnte, welcher Stier sie bespringen sollte.
»Das hat ihr gefallen.« Er blinzelte in die weißen Wolken und sagte: »Wir können ja später mit unseren Kindern auch auf dem Land wohnen.«
Ina stolperte fast. »Mit unseren – was?«
Er blieb stehen. »Ich denk schon, daß wir ein Baby haben könnten.«
»Tommy, das hat man nicht einfach so. Wieso sagst du das jetzt?«
»Willst du denn kein Baby?«
Vielleicht war es das Erstaunen in seiner Stimme, das ihr diesen Kloß in den Hals schob. »Ich kann das nicht«, murmelte sie. »Ich meine nicht das Kriegen, sondern überhaupt.«
Er lachte. »Jede Frau kann das.«
Sie setzte sich auf eine Mauer und rupfte ein paar Grashalme aus. »Früher hab ich mal gewollt, da wollte der Kerl nicht, und dann hat sich das verändert, ich meine, ich bin zu
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