Sterntaucher
zum Feuer schreien. Mein Vater sah tausendmal besser aus.«
Nach dem Essen kuschelten sie sich vor dem Fernseher aneinander und sie zappte hin und her, bis Tom ihr die Fernbedienung aus der Hand nahm. »Ich will mal was sehen«, sagte er. »Mach doch nicht so hektisch da rum.«
»Ach komm, ich bin überhaupt nicht hektisch.« Ich hab nur Angst, wollte sie sagen, so ein beschissenes Gefühl, das alles verloren ist, alles weg irgendwie, alles kaputt. Verstehst du das? Nein, wie solltest du, dir ist keiner ins Leben gefahren, den du gar nicht kennst.
Sie küßte ihn auf die Wange. »Magst du noch ein Bier?«
Am nächsten Morgen stand sie um fünf Uhr auf, fütterte den Kater, goß alle Pflanzen und stellte Tom ein Frühstück hin, das seine Sippe über den Winter gebracht hätte.
»Ißt du nichts?« fragte er, und als sie ging, rief er ihr jammernd hinterher: »Das muß ich doch jetzt alles wegräumen.«
Um sieben saß sie im Präsidium, las noch einmal die Akte Robin Kammer und ging Punkt für Punkt alle Aussagen und Berichte der Kollegen durch. Innehalten war das Schlimmste. Bloß nicht haltmachen und zur Decke starren und dann diese Bilder sehen, lachende Jungs, um die sich die Arme ihrer Mutter schlossen, weißes Scheinwerferlicht, das eine schwarzgekleidete Frau beschien, und dann etwas Unförmiges, Dunkles, das zwei Männer in einen luftdichten Zinksarg legten. Nein, bloß keine Bilder, wisch sie mir raus aus dem Hirn.
Auch Pagelsdorf kam früh. Er ging zum Fenster, fummelte an den Jalousien und fragte nach dem Pathologen.
»Nein«, sagte sie, »noch nichts.«
»Unschön das Ganze«, murmelte er. »Ausgesprochen unschön.«
Richtig, wollte sie sagen, ganz besonders unschön ist, daß ich meinen Job nicht mehr kann, oder wie würden Sie das sehen? Was gehen mich auf einmal Leute an, die wir Tatverdächtige nennen oder Opfer oder Täter? Darf man nicht persönlich nehmen, hat der Polizeipsychologe gesagt, den Sie mir selbst damals empfohlen haben, weil ich mit den Leichen nicht zu Rande kam und schon gar nicht mit dem Unfall. Aber ich hab’s doch halbwegs hingekriegt, hab es hundertmal richtig gemacht, nur jetzt nehm ich es persönlich, weil es genauso ist, als war mir jemand weggestorben, mit dem ich noch leben wollte, ein paar friedliche, schöne Jahre lang. Ich wollte mit ihr reden und hatte nie die Chance dazu, hab sie ja früher schon verpaßt, als mein Zimmer voller Bravo-Starschnitte war und mich außer Sunny-Sigrid singende Frauen nie interessierten, zu leise halt, zu piepsig und erotisch schon mal überhaupt nicht. Nichts zum Träumen, wenn man die Wände anstarrt und woanders sein will. Ich hab sie verpaßt, weil ich zu doof für sie war, denn was hätt ich schon anfangen können mit einer, die sich hinstellt und Gedichte liest von einem Lorca? Die verstehe ich heute noch nicht richtig, aber ich will es versuchen, und vielleicht schaffe ich es ja, sie zu lesen, ohne diesen Horror zu kriegen und das dunkle Bündel zu sehen, das Ende, bevor es begonnen hat.
Sie sah Pagelsdorf ins Gesicht. Still sah er sie an wie ihr Vater früher, wenn sie das Essen stehenließ, weil wieder so ein Kerl dahergekommen war, der ihr nicht unbedingt das Herz gebrochen hatte, sondern, was viel wahrscheinlicher war, den Magen.
Was hatte er gerade gesagt, unschön?
Womit dieser sprachgewandte Mensch aber sicher nicht dasselbe wie häßlich meinte, oder?
»Ja«, sagte sie, bevor sie sich wieder in die Akte vertiefte, »stimmt.«
Mittags traf sie sich mit Nicole. Sie setzten sich auf eine Mauer im Hof des Präsidiums und versuchten, über Filme zu reden und über Mode und Musik.
»So ein schönes Sinfoniekonzert«, sagte Nicole, »willst du nicht mal mit?«
»Was denn, in die Oper?«
»Konzert hab ich gesagt, das ist etwas anderes als Oper.«
»Ist für mich derselbe Kram, da schlaf ich ein.«
»Ach Süße.« Nicole strich ihr durchs Haar. »Du kannst dich nicht immer nur zudröhnen.«
»Das tut aber gut.« Ina rieb die Handflächen gegeneinander. Seit dem Morgen war ihr ständig kalt. »Die Kammer hat Mozart gespielt. So nebenbei, nicht auf der Bühne.«
»Aha?« Nicole klang skeptisch. »Konnte sie es denn?«
»Es hörte sich richtig an.« Ina schloß die Augen. »Wir lassen Dorian überwachen.«
Nicole sagte nichts.
»Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergeht. Robin hat seine Mutter gehaßt. Ich sag dir, wie es war: Der hat sie vor Jahren getötet. Vielleicht hat Dorian es jetzt erst herausgefunden, oder es
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