Sterntaucher
Tag, hörte er Robins andere Stimme, die des Lebenden, der mit vierzehn, fünfzehn bei Tillmanns vor dem Fernseher saß und sagte: »Hau ab, du stehst im Bild.« Manchmal war das der einzige Satz, den er an einem Abend sprach. Seit der Riederwaldnacht redete Robin noch weniger als zuvor, und wenn er spät in der Nacht nach Hause kam, ging er wortlos an Tillmann vorbei, der wie ein Gespenst im Hausflur stand und »ROBIN« schrie, »ICH HAB AUF DICH GEWARTET.«
Robin drehte sich um und glotzte ihn nur an.
»Was bildest du dir ein«, brüllte Tillmann, »es geht auf Mitternacht zu.«
»Echt«, sagte Robin. »Kannst die Uhr lesen, hm?«
»Du wirst unter die Räder kommen, genau wie deine Mutter. Ich werde dir Hausarrest geben.«
»Jo, mach mal.«
Tillmann gab ihm Hausarrest, doch Robin kümmerte sich nicht darum. An vielen Abenden sah man ihn nur zum Essen, und doch schien er woanders zu sein. Keiner wußte, wo er war, wenn er am Tisch vor sich hinstarrte und nur die Mundwinkel sich ein wenig in seinem Gesicht bewegten, ohne daß jemals ein Lächeln daraus wurde. Träumte er? Nein, er war kein Träumer mehr, denn seine Gedanken waren kalt. »Mußt was machen«, sagte er manchmal zu Dorian, »mußt die richtigen Leute kennen.«
Früher hatte er bestimmt geträumt und wie Dorian die unendlichen Räume gesehen, in die sie vordringen wollten und die so groß wie der Platz vor dem Bahnhof waren, auf dem sie als Kinder mit Coladosen kickten. Auch später noch, wenn sie am Tag auf ihren Betten lagen, weil es regnete und der Wind so gehässig durch das kleine, undichte Fenster blies, war er sicher, daß auch Robin von irgendetwas träumte, weil keiner ohne Träume überleben konnte, wenn er fror. Doch er sprach nicht mehr darüber, er sagte nur: »Mußt Kohle bringen, Depp. Wenn du Bulle werden willst, kannste gleich die Bettelbüchse holen.« Oder er sagte: »Von nix kommt nix, Depp, mußte dir merken.« Halbe Sätze spuckte er aus, die er vielleicht von den Typen übernahm, mit denen er sich traf, Kerle mit brüllenden Stimmen, an deren Hand neben fünf Fingern noch ein Gettoblaster klebte und die verächtlich über alles lachten, was sich ihnen bot.
Einmal ging er sogar auf ihn los, das war an dem Abend, als Dorians Freundin in ihrem Zimmer war und Robin früher nach Hause kam als gewöhnlich. »Hier stinkt’s nach Fisch«, sagte er gleich beim Reinkommen, und dann, als sie weg war, fragte er: »Fickste die etwa?«
»Ja«, sagte Dorian. »Klar.«
»Äh, pfui Deibel, die stinkt doch.«
Dorian sah ihn. Kurz nach der Riederwaldnacht hatte Robin sich die Haare so kurz schneiden lassen, daß nur noch Stoppeln übrigblieben, und seit ein paar Wochen trug er einen Ring am rechten Ohr.
»Bist du schwul?« fragte er. »Bist du ’ne Tucke?« Es interessierte ihn wirklich, doch bekam er keine Antwort, weil Robin sich auf ihn stürzte und mit beiden Fäusten auf ihn einzuschlagen begann.
Doch du hattest keine Kraft, du Zwerg, du hattest nur dein großes Maul. Jederzeit konnte man dich umpusten wie einen Grashalm im Wind. Bist gleich umgefallen. Hast geschrien.
In seiner Küche preßte Dorian die Hände auf den Bauch – jetzt sagst du nichts, nein? Ich glaub, du warst ein Neutrum oder wie man das nennt, hast nie etwas gefühlt. Na ja, früher mal, als kleiner Kerl, der sich von seiner Mama Schlaflieder singen ließ, da hast du immer nur gelacht. Da hast du die Freude gefühlt wie Jahre später den glühenden Schmerz, als sie dir den Stock reinschoben und dich traten. Danach, glaub ich, hast du nichts mehr gefühlt. Hätte man richtig mit dir reden können, zum Beispiel über Frauen, hätte ich dir vielleicht von dieser Schlampe aus dem Schuppen erzählt, von dieser Hure, weißt du, die in der Riederwaldnacht bei den Schlägern stand. Aber über Frauen konnte man halt nicht mit dir reden, über schöne, sanfte Frauen so wenig wie über verkommene Schlampen.
Ihr Haar wurde grau.
Von Zeit zu Zeit kam er am Hotel Sylvia vorbei, in dem die Huren hausten und an kalten Tagen die Penner und Säufer ein Zimmer fanden. Ja, das war der richtige Ort für sie. Er stand auf der Straße davor und guckte sich den Ramsch der umliegenden Geschäfte an, warme Decken für zehn Mark, lieblos ins Schaufenster geworfen, Gummischuhe und Kinderpullis für zweifuffzig, in denen gierige Hände wühlten. Falscher Schmuck im Pfandhaus nebenan, Silberringe und versetzte Uhren, die irgendwann stehengeblieben waren, Buddha-Statuen und
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