Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
Vom Netzwerk:
Erde. Niemand hier wußte, wie es war. Ina sah zu Pagelsdorf, der leise vor sich hin murmelte: »Den Zahnarzt müssen wir suchen.«
    Zahnarzt, ja. Warum überstehen die Zähne die Ewigkeit, warum nicht die Augen? Du hattest wunderschöne Augen, früher war da ein Schimmer drin.
    Auf die Zeit kam es jetzt an, Monate, Jahre? Bedeutete Arbeit für die Gerichtsmedizin, weil Katja Kammer polizeilich nie in Erscheinung getreten war. Hast ein bißchen gekokst, nicht wahr, und kamst auf Speed mit den Jahren, doch kein Mensch hat dich behelligt. Hast einen Scheißkerl zum Krüppel gefahren und bist davongekommen, ja, war okay. Bloß gegen deinen Sohn kamst du nicht mehr an.
    Wie lange schon? Weißt du, wie das ist, ich such dich wie blöd, und du bist längst nicht mehr da.
    Ich will dich nicht sehen. Nicht so, nicht da drin.
    Worte im Kopf, nur im Kopf. Zitternde Hände und ein Beben in den Beinen, komm mit mir an den Strand, irgendwohin.
    Meer, blaues Meer, Ina versuchte es sich vorzustellen, während das Geräusch, mit dem die Spaten in die Erde fuhren, ihr vorkam, als explodierten Knallkörper direkt in den Ohren. Der Polizeipsychologe hatte ihr nicht erzählt, daß man wegdriften konnte, der faselte viel lieber davon, man müsse sich stellen. Doch manchmal funktionierte es. In einer lauschigen Vorstadtsiedlung schoß ein Ehemann seiner Frau sechsmal in die Brust; Ina zählte die Einschußlöcher und ging am Strand spazieren. Nach den Schüssen stach er ihr die Augen aus; sie blickte in die schwarzen Höhlen und hörte Toms Stimme in dem kleinen Fischerlokal, wo er am ersten Abend ihres ersten gemeinsamen Urlaubs seine ersten Muscheln aß. Zuerst wollte er ja nicht; »Ich eß so was nicht«, sagte er, »ich eß nix von unten.« Manchmal konnte sie woanders sein, doch diesmal funktionierte es nicht. Sie vernahm das leise Stöhnen in der Stimme des Beamten, der sich vor ihr aufrichtete und sagte: »Da ist was. Und da.« Er preßte einen Handrücken auf seine Stirn wie einer, der sich den Schweiß abwischen will oder rasende Kopfschmerzen hat.
    »Hier auch«, sagte ein anderer. »Hier ist – äh – Himmel, was ist das?«
    »Das gehört zum Schädel«, sagte Nicole. »Laß mal sehen.« Ihre langen roten Locken leuchteten auf der dunklen Jacke mit der weißen Aufschrift Polizei.
    »Männlich oder weiblich?« rief der Hundeführer herüber. Der Mundschutz machte seine Stimme dumpf. »Erwarten Sie jemand Bestimmtes?«
    »Ja, ja, wir denken weiblich.« Pagelsdorf räusperte sich laut, bevor er sich diesem elenden Grab mit kleinen, behutsamen Schritten näherte.
    »Liegt auf dem Bauch«, sagte Nicole. »Vorsichtig, trag das hier noch ab. Sieh mal an, das sind Stoffreste, oder? Wurde in irgendwas eingewickelt. Ja, gut. Ah, die Beine, ja, das dauert seine Zeit. In Madagaskar holen sie ja alle zwei Jahre ihre Verwandten aus den Gräbern, um mit denen ein Fest zu feiern. Die sind dann natürlich in Tücher gehüllt, wie hier. Das machen sie so lange, bis es wirklich nicht mehr geht.«
    »Um Gottes willen«, sagte Pagelsdorf. Er keuchte ein wenig, bevor er mit höflicher Stimme fragte: »Warum denn nur alle zwei Jahre?«
    »Weil so ein Fest teuer ist.« Nicole ging in die Knie. »Und die Sippen sind da unten riesig.« Sie blickte eine Weile auf was immer sich ihr bot und sagte dann: »Ich denke, wir haben alles beieinander.«
    Einer der Beamten wandte sich Ina zu. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, und seine Augen fragten: Warum tust du mir das an? Stehst da herum und hast es bequem, sagten seine Augen, willst du nicht wenigstens mal gucken, wenn ich dir schon die Drecksarbeit mache?
    Nein, ich will nicht, ich kann auch nicht, nein. Sie schüttelte leicht den Kopf, während sie versuchte, in seine erschreckten, zornigen Augen zu kriechen; gewöhnlich guck ich doch alles an, was ich nicht sehen will, kennen wir uns nicht? Dann wüßtest du es. Alles in der Regel, erstochen, erschossen und erschlagen, zerstückelt oder aufgedunsen, weil wochenlang in der eigenen Wohnung begraben und von niemandem vermißt, all diese grauenhaft häßlichen Leichen guck ich dir an, nur jetzt, verstehst du, geht das nicht. Kapier das doch endlich, guck weg. Sie wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf Nicoles rotes Haar. Nicole stand mit verschränkten Armen neben Pagelsdorf und sagte: »Also, ich weiß nicht. Was meinen Sie?«
    Pagelsdorfs Stimme klang hohl. »Sie ist halt noch nicht vollständig, ehm, Sie verstehen mich?«
    »Ich halte das nicht

Weitere Kostenlose Bücher