Sterntaucher
Atmen fiel ihm nun leichter, und das Kribbeln auf der Haut, das ihn vor Kempers Grab befallen hatte, ließ nach. Er war zufrieden und wußte, daß es mit dem Leben weiterging. Britta hieß das Mädchen, mit dem er vor zwei Nächten wie blöd im Auto ihres Vaters geknutscht hatte, Britta mit dem roten Haar, die er wiedersehen würde. Am Wochenende könnte er sie mitnehmen zum Fußball, und dann, er mußte mal sehen, gingen sie schick essen. Es war in Ordnung, er hatte etwas ausradiert.
Sie berührte seinen Arm und fragte: »Wie sieht sein Sofa aus?«
»Och, das ist weiß. Darf man nicht mit schmutzigen Stiefeln drauf. Die ganzen Porzellanfigürchen sind auch ziemlich blöd, lauter Kitsch. Sind jetzt aber kaputt.«
Ihre Augen bohrten sich in seine – die Schlüssel. In diesem Moment fiel ihm ein, daß er Kempers Schlüssel noch hatte. Sie steckten in seiner Hosentasche, weil er Schlüssel immer in die Hosentasche schob. Das machte man automatisch, dachte nicht darüber nach. Er zog sie heraus und sah, wie sie die Hand ausstreckte – du lieber Gott, Robbi, ob sie Abschied nehmen wollte von dem ganzen Kram? Von diesem Bett vielleicht, in dem sie zur Tür hin lag, wie Kemper sagte, von den zerplatzten Figuren, Püppchen und Vögeln? Wollte sie das?
Zusammen fuhren sie hin. Sie wollte nicht, daß er sie begleitete, doch was konnte sie schon machen, sie kam ja nicht gegen ihn an. In der vollen S-Bahn wurde sie gegen ihn gedrückt, und als er ihre zitternden Schultern spürte, fiel ihm ein, wie er als Kind seine Mutter einmal beim Klavierspielen sah. Er rief sie, doch sie antwortete nicht, und als er dann auf sie zumarschierte, sah er sie lächeln, noch bevor sie etwas sagte. Ein winziges Lächeln war es gewesen, als probte sie nur, dann nahm sie ihn hoch und drückte ihr Gesicht in sein Haar, während sie mit einer Hand weiterspielte. War Christian da schon tot? Er erinnerte sich nicht, nur daran, daß ihre Schultern zitterten, während sie ihn an sich drückte. Mit einer heftigen Bewegung lehnte er sich zurück und prallte gegen eine alte Frau, die keifte: »Uffpasse, uffpasse.«
Als sie die Treppen zu Kempers Wohnung hochstiegen, schien sie vor der letzten Stufe zu kapitulieren. Sie blieb stehen und starrte auf die Tür.
»Sie ist abgeschlossen«, sagte er.
Drinnen war viel Blut, Robbi. Haben wir nicht darauf geachtet oder fanden wir das normal? Haben wir so auf diesen Mann gestarrt, daß all das Blut hinter unseren Augen verschwamm? Na wie auch immer, sie guckte sich das an, dann fing sie an zu putzen. Sie holte einen Eimer aus der Küche und rutschte auf den Knien durch die halbe Wohnung, sammelte alle Scherben auf und kratzte ganze Stücke aus dem Teppich. Sie zog den blutigen Bezug vom Sofa und stopfte ihn in einen Müllsack; das ist ja interessant, wollte er sagen, der läßt sich abnehmen? Frau Tillmann hätte das gefallen. Doch er sagte nichts und versuchte, ihr nicht im Weg herumzustehen, er sagte auch nicht, wie er das jetzt fand. Das war ihre Art, glaubte er, mit Kemper abzurechnen, ihn aus ihrem Leben zu streichen, sie putzte einfach alles weg. Im Flur setzte er sich auf den Boden und zog ihre Plastiktüte heran, in der tatsächlich Bücher lagen, abgegriffene Bücher aus der Bibliothek, die durch tausend Hände gegangen waren und auch so rochen, Vian: Der Schaum der Tage, Lorca: Gedichte, Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen, Link: Das Haus der Schwestern. Was für ein Kram. Er stopfte alles zurück, während sie sich mit dem Fernseher abmühte, mit dem aber nichts mehr zu machen war. Sie sammelte die Scherben der zerbrochenen Mattscheibe auf und deckte den Rest mit einem Bettuch ab, dann blieb sie mitten im Zimmer stehen, und er sah, daß ihre Finger blutig waren.
»Gibt’s hier Pflaster?« fragte er.
»In der Küche.« Ihre Stimme war zittrig. »Hinterm Brotkasten.«
Sie stand wie eine Schlafwandlerin da, die nichts mehr in der Welt erkennt, doch streckte sie ihm bereitwillig ihre Hand entgegen. »Den Kühlschrank räum ich noch aus«, murmelte sie, während er zwei Pflaster um ihre Finger wickelte. »Jetzt ist niemand mehr hier, jetzt ist er weg. Ausgeflogen, zahlt die Miete nicht. Ich meine, wenn sie dann nachgucken und sehen nur die leere Wohnung –«
»Ja«, sagte er und hatte das Gefühl, daß sie nur für sich selber sprach. Auch als sie ihn plötzlich umarmte, wußte er nicht, was sie nun genau meinte. Hatte er ihr einen Gefallen getan, indem er Kemper hier herausschaffte,
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