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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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wegschaffte auch aus ihrem Leben, oder vermißte sie ihn sogar? Sie zog ihn an sich und flüsterte in sein Ohr: »Geh jetzt zur Arbeit oder zu deiner Freundin. Es ist gut, hörst du? Es ist nichts passiert.«
     
    Aber immer wieder sah er sie putzen. Auf Knien sah er sie liegen, sah ihren gekrümmten Rücken und hörte ihren keuchenden Atem, als sie das ganze Blut aufwischte und die Scherben aufnahm, um den Tod wegzuräumen aus diesem Haus. Es war merkwürdig, aber später, bei einem seiner ersten Einsätze als Polizist, kam er in eine Wohnung, in der eine Frau in der Küche auf den Knien lag, und er wußte noch, was sie sagte, als sie sich flüchtig zu ihm umdrehte. »Zwei Türen weiter«, sagte sie, bevor sie einen Lappen auf den Boden klatschte, und meinte ihren randalierenden Mann. Aber er blieb an der Küchentür stehen, starrte auf ihre Knie, die mit dem Boden fest verwachsen schienen, und wußte nicht, ob er sie schlagen oder umarmen wollte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das immer wiederkam und ihn ansprang bei allen Frauen, die auf Knien waren, ganz unten, ganz allein, in Kneipen, in Bahnhöfen und auf der Straße. Er wollte nichts mit ihnen anfangen, denn als Frauen interessierten sie ihn nicht, er wollte nur bei ihnen sein und sie ein bißchen schützen, wenn die Kälte sie fraß.
    »Ja«, sagte er laut, als ihm einfiel, daß er bis vor ein paar Tagen das Grab im Riederwald vergessen hatte – blöd, wenn einem einfiel, daß man etwas vergessen hatte. So viele Dinge kamen zurück, und daran war nur Robin schuld, sein toter Bruder, der in ihm flüsterte: Da liegt er. Unter der Erde im Riederwald.
    »Ja«, sagte er erneut. Er blinzelte. Sie saßen noch immer da, Hauptkommissar Kissel und Oberkommissarin Henkel, und starrten ihn an. »Robin hat gesagt, daß er da liegt.«
    »Wer?« fragte Kissel mit merkwürdig resignierter Stimme.
    »Kemper.«
    »Ja.«
    »Sie wußten das schon?«
    »Herzchen«, sagte Kissel, dann seufzte er schwer wie ein alter Mann, der ein letztes Mal dran denkt, was er einst mit Frauen machte. »Es gibt die Gerichtsmedizin. Und es gibt eine alte, unbedeutende Akte des Kemper. Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
    »Der mochte keinen Lärm«, sagte Dorian. »Als Kinder durften wir abends nicht mehr spielen.«
    Damals im Folterhaus hatte er Kemper nicht erkannt, nicht direkt jedenfalls, nicht so, daß er hätte sagen können: Das ist der Mann von früher, bei dem haben wir gewohnt. Die Leute veränderten sich, und gerade wenn man ein Kind war, trug man Gesichter mit sich herum, von denen man glaubte, sie blieben ein Leben lang gleich. Auch sein eingeschlagenes Gesicht hatte er vergessen, nur sein Arm war geblieben, der Arm, der auf der Rückenlehne seines weißen Sofas lag. Er hob den Kopf und sah wieder in Ina Henkels dunkelblaue Augen. Sag doch was. Doch wieder war es Kissel, der redete; »Herr Kammer, sollen wir Sie zu einem Arzt bringen?«
    »Nein, nein.« Sacht fuhr er mit einem Finger über Inas Schläfe. Ein wenig zuckte sie zurück, doch dann hielt sie still.
    »Da hatte er die Narbe«, flüsterte er. »Sind wir beim Arzt gewesen, alle drei.«
    »Wer?« Ihre Stimme noch leiser als seine.
    »Na, Robin. Ist er gefallen als Kind. Sie hat dann ihre Hand auf seine Schläfe gelegt, auf die Narbe, als er da lag.«
    »Wer?« fragte sie wieder.
    »Diese Frau.« Er seufzte. »Die Frau vom Riederwald. Als er geschlagen wurde, lag er da und hat geweint, da war er zwölf. Sie ist zu ihm hin und hat ihm das Haar zurückgestrichen, da hat er aufgehört zu weinen.« Er nickte, und als er sie wieder ansah, hatten ihre Augen sich verändert, waren noch dunkler jetzt, noch blauer. Eine winzige Träne löste sich aus ihren Wimpern, als sie flüsterte: »Wo ist sie?«
    »Wer?«
    »Deine Mutter.«
    »Wieso?«
    »Bist du dabeigewesen?« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Damals, als Robin das passiert ist, warst du dabei?«
    »Nein«, sagte er, denn das ging sie nichts an. Das ging keinen Menschen etwas an.
    »Und er?« fragte sie. »Wie ist Robin dahin gekommen – in diesen Schuppen?«
    Er sah sie an. Was wußte sie denn, hatte sie Ahnung von Ketten, Peitschen und Gelächter? Von einer brennenden Kerze im Arsch? Sie wußte nichts, machte sich jeden Morgen schön vor dem Spiegel und spazierte leichtfüßig aus dem Haus.
    »Robin hat sich halt herumgetrieben.« Er stand auf und registrierte, daß er die ganze Zeit vor ihr auf dem Boden gesessen hatte. »Ich sag dir Bescheid, wenn meine Mutter

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