Sterntaucher
verheiratet, und das Ganze war ein ziemliches Chaos, weil er depressiv war, manisch-depressiv. Er lag wochenlang im Bett, da mußte sie ihn waschen und füttern, und wenn er dann wieder munter war, endete das oft damit, daß er in der Wohnung alles kurz und klein schlug. Mit dem zweiten Kind wollte sie alles kitten, doch es ging nicht. Sie ist dann zu Freunden in eine Wohngemeinschaft gezogen.« Die Anwältin tippte zweimal mit der vergoldeten Spitze ihres Füllhalters auf den Tisch, als hätte sie diese Geste studiert. »Später hat er sich das Leben genommen, aber sicher nicht deswegen, er hat sie ja kaum noch wahrgenommen. Katja hat nie gejammert, aber sie hat die Krankheit nicht verstanden. Sie hat vor ihm getanzt, um ihn munter zu machen, hat ihm Lieder gesungen, sie sagte dauernd zu ihm: Du hast doch nur dieses Leben, du mußt dich über jeden Tag freuen, den du atmen und sehen und hören kannst. Sie war so, sie ging mit großen Augen durchs Leben. Ich kann mich noch erinnern, wie sie mir dauernd das Baby zeigte, das erste, sie kam ja nicht los von dem Kleinen und staunte ihn an. Wenn er die Händchen irgendwohin patschte, fing sie sofort an, mit ihm zu reden; das ist ein Tisch, da wirst du später dran essen, das ist Gras, willst du mal riechen? Sie trug ihn überall mit sich herum – wie hieß er noch?«
»Dorian«, sagte Ina leise. Sie hatte das Gefühl, an einer merkwürdigen Messe teilzunehmen, die Ellen Severin da zelebrierte.
»Katja hatte dann einen neuen Freund und ist mit ihm und den Kindern aufs Land gezogen, was überhaupt nicht zu ihr paßte. Aber irgendwas ist da passiert, denn sie kam ohne ihn zurück und fing an, sich völlig zurückzuziehen. Alles ging schief, sie hat nicht mehr arbeiten können, die Erfolge blieben aus, und irgendwann kam sie dann an und sagte, es gehe nicht mehr. Sie hatte nicht vor, sich endgültig von den Kindern zu trennen, aber damals war sie ziemlich am Ende. Es war etwas mit Tabletten, sie war fertig. Sie mußte weg und konnte die Jungs nicht mitnehmen.«
»Sie meinen, sie hat eine Entziehungskur gemacht?«
Die Anwältin nickte.
»Wo war das?«
»In der Heiberg-Klinik, eine Privatklinik. Ich glaube, sie war nie krankenversichert, hat sich um solche Dinge nicht gekümmert, und das hat sie wohl ihr ganzes Geld gekostet. Aber sie hat sich ja nicht mehr gemeldet. Ich weiß nicht, was alles passiert ist, aber es war nicht vorauszusehen. Damals waren wir eine Clique, alle möglichen Leute waren dabei, auch Tillmann.« Sie lächelte, als sei es unvorstellbar, daß Tillmann einmal Mitglied einer Clique gewesen war. »Katja war wie der Stern, um den wir alle kreisten. Wir anderen studierten und planten unsere Karrieren, Katja war das Rotzgör aus dem Zigeunerviertel, das sich ans Klavier setzte und die Leute zur Ekstase brachte. Wissen Sie, das war lange, bevor es diese DJs gab.« Ein wenig herablassend sah sie Ina an, als wollte sie sagen: Mit DJs kennen Sie sich doch wohl aus.
»Und weiter?« fragte Ina.
»Katja hat sich alles selbst beigebracht.« Die Anwältin berührte ihren gläsernen Briefbeschwerer und suchte vielleicht das Schicksal darin oder eine für immer verlorene Zeit. »Sie war sechzehn, da entdeckte sie bei ihrem Freund, also dem späteren Vater ihrer Kinder, ein Klavier, ist kurzerhand bei ihm eingezogen und konnte nach ein paar Monaten darauf spielen. Plötzlich kam sie mit Liedern an, mit eigener Musik, und das war etwas – ich meine, Tillmann hat es als erster erkannt, es war schick. Die Leute mochten das, ein Kind aus der Gosse, das sein großes Talent entdeckt und einfach unbekümmert loslegt. Sie war kein Star für die Massen, wissen Sie? Star ist überhaupt zuviel gesagt, dazu war sie viel zu kompromißlos. Sie war in einer bestimmten Szene populär, aber mit dieser Begabung hätte sie es viel weiter schaffen können. Sie hat sich um keinen Trend gekümmert, hat nur gemacht, was sie wollte.«
Einen Moment lang herrschte völlige Stille, bis Ina sagte: »Ich möchte eine Liste haben.« Ihre eigene Stimme erschien ihr zu laut. »Eine Liste mit Leuten, die Katja Kammer kannten.«
»Zu den meisten hab ich den Kontakt verloren, es sind nur noch ein paar Namen.«
»Schön, dann geben sie mir ein paar. Kennen Sie einen Kemper?«
»Nein. Zumindest erinnere ich mich nicht. Wir waren so viele damals –« Ellen Severin nahm ihren schweren Füller, schraubte die Kappe auf und schraubte sie wieder zu. »Wenn wir anderen lächelten, dann lachte sie
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