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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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laut, wenn wir im Kino verschämt eine Träne verdrückten, hat sie hemmungslos geheult, und wenn sie Lust hatte, bei Regen spazierenzugehen, packte sie die Kinder ein und trampelte mit ihnen durch alle Pfützen. Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann – wenn ihr jemand gefiel, dann umarmte sie ihn wie einen Geliebten, das machte sie mit Männern und mit Frauen so. Sie war so unbekümmert und spontan und voller Herzlichkeit. Sie scherte sich um nichts. Sie war anders.«
    Anders war sie, anders als wer? Anders als das spindeldürre Männlein da vorn, das sich aus der Tür des Hauses schob, in dem die Kammer aufgewachsen war? Zwei wankende Schritte kriegte er hin, bevor er sich gegen das verrottete Gemäuer lehnte, als hätten Licht und Luft ihn überwältigt. Ina öffnete die Wagentür einen Spalt und starrte auf das Haus, als müsse sie es daran hindern einzustürzen. Hatte sie sich gefürchtet, je wieder hierher zurückkehren zu müssen, oder war es ihr egal gewesen, wo sie lebte, wenn sie nur lebte? Anders war sie, na schön, war mit sechzehn ausgezogen, um das zu tun, was sie wollte. Hätte sie sich verkniffen, Modezeichnerin zu werden, um einen sicheren Job zu wählen mit garantierter Pension?
    Blöder Gedanke, führte zu nichts. Sie hatte sich auf die Frau im Abendkleid zu konzentrieren, die im Notizbuch ihres toten Sohnes stand, KaKa, 1000, -, Hure geh sterben, fang an.
    Früher trug sie keine Abendkleider, sondern schwarze Jeans. Auf einem alten Foto, das die Anwältin noch herausgekramt hatte, lehnte sie an einer Mauer, und nur die helle Haut hob sich ab von der dunklen Wand. Keine Pose; sie guckte in die Kamera, als schaue sie sich selbst im Spiegel an, um darüber nachzugrübeln, ob noch etwas fehlte – Ohrringe vielleicht oder Lippenstift?
    »Es war nicht leicht, sie zu fotografieren. Sie lächelte nicht, wenn man es wollte.« Am Ende ihres Gespräches wirkte Ellen Severin erschöpft vom Blick zurück. Hinter ihrem schweren Schreibtisch, zwischen Notebook, Telefonanlage und Diktiergerät saß sie wie in einem Cockpit und sagte, daß Katja ihre Freude an ihr hätte, würde sie sie heute sehen. »Mir erschien es vernünftig, Anwältin zu werden, das hat sie nie begriffen. Sie glaubte, daß die Vernunft die Freude tötet, die Freude am Leben. Drehen Sie doch das Foto mal um.«
    Die Schrift auf der Rückseite war so groß und deutlich wie die in Robin Kammers Notizbuch.
    Ellen, heute haben wir einen verwunschenen kleinen Feldweg gesehen, aber Du wirst die gerade graue Straße nehmen. Wenn Du ihr Ende erreicht hast, weißt Du, daß Du den Feldweg nie wiederfinden wirst. Aber immer denkst Du dran.
    Ina hob den Kopf. Weißt du was, auf der geraden, grauen Straße lande ich wenigstens nicht in einem Dreckloch wie du. Sie warf das Foto auf den Tisch. »Was soll ich damit, ich will kein Fotoalbum, sondern eine Namensliste.«
    Mit hochgezogenen Augenbrauen sah die Anwältin sie an, bevor sie ihr mit müder Bewegung einen Zettel reichte. »Leute von früher«, sagte sie leise.
    Leute mit gemeldetem Wohnsitz und keinerlei Verdacht, der auf ihnen lastete, geschäftige Leute, unabkömmlich so von jetzt auf gleich. Leute auf der geraden Straße, eine Architektin, eine Erzieherin und der leitende Angestellte eines Möbelhauses, die ein paar kostbare Minuten opferten, um mit gehetzter Stimme »Katja?« zu fragen, »Katja Kammer? Die hab ich doch ewig nicht gesehen.« Auch die Architektin hielt Ina ein Foto entgegen, das eine lachende Katja Kammer zeigte, die auf einer Wiese lag mit einem Baby auf dem Bauch.
    »Steht was hinten drauf?« fragte Ina.
    »Nein, warum?« Die Architektin saß auf einem Gesundheitsstuhl und schob Papiere auf dem Schreibtisch hin und her. Ob Schreibtische Geschwister hatten, Zwillinge sogar? Er sah genauso aus wie der von Ellen Severin.
    »Wissen Sie was?« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Katja hatte manchmal so ein Gemüt wie Mongoloide es haben, also verstehen Sie mich nicht falsch! Aber diese Mongoloiden sind ja so nett, das wissen Sie vielleicht, die sind keinem Menschen böse, auch wenn der sie verletzt hat, weil sie es am nächsten Tag schon wieder vergessen haben. Katja kam mir genauso vor. Da konnte einer sie schlimm beschimpfen, das tat sie mit einem Achselzucken ab, um ihn am nächsten Tag anzustrahlen wie ihren allerbesten Freund. Manchmal war sie arglos, ja, viele Dinge prallten einfach an ihr ab. Sie ließ sich nicht beeindrucken, ja, das war’s, von nichts und niemandem, sie

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