Sternwanderer
er nur öffnete, um sich einen Apfel, ein Stück Käse oder ein Glas Pfefferwein zu genehmigen. Er bewohnte das oberste Zimmer in der Seemannsruhe, einem schmalen hohen Gebäude, das auf einen Felsvorsprung gebaut war, um das Schmuggelgeschäft zu erleichtern.
Lord Primus bestach eine Reihe ansässiger Straßenkinder, ihm Bescheid zu sagen, sobald auf dem Land- oder Seeweg ein Unbekannter in der Stadt einträfe; vor allem sollten sie Ausschau halten nach einem sehr großen, vierschrötigen dunkelhaarigen Burschen, mit einem gierigen Gesicht und ausdruckslosen Augen.
»Allem Anschein nach hat Primus endlich gelernt, vorsichtig zu sein«, sagte Secundus zu seinen fünf anderen toten Brüdern.
»Nun, du weißt ja, was man sagt«, wisperte Quintus im wehmütigen Ton der Toten, der an jenem Tag klang wie das ferne Plätschern der Wellen an einem Kiesstrand. »Ein Mann, der Septimus nicht ständig im Auge behält, ist lebensmüde.«
Am Morgen unterhielt sich Primus mit den Kapitänen, deren Schiffe in Scaithes Ebb vor Anker lagen, spendierte ihnen großzügig Grog, aß und trank selbst aber nie mit ihnen. Nachmittags inspizierte er dann die Schiffe in den Docks.
Schon bald hatten die Klatschmäuler von Scaithe’s Ebb (von denen es mehr als genug gab) die Sache durchschaut: Der bärtige Gentleman wollte sich nach Osten einschiffen. Auf diese Geschichte folgte rasch die nächste, daß er nämlich unter Kapitän Yann auf der Traumherz ausfahren wollte, einem Schiff mit schwarzen Verzierungen und einem blutrot gestrichenen Deck, von mehr oder minder anständiger Reputation (das heißt, es beschränkte seine seeräuberischen Aktivitäten auf ferne Gewässer), und zwar sobald der Gentleman dies wünschte.
»Guter Herr!« sagte ein Gassenjunge zu Lord Primus. »Es ist ein Mann in die Stadt gekommen, auf dem Landweg. Er wohnt bei Mistress Pettier, ist dünn und einer Krähe nicht unähnlich, und ich hab’ ihn im Meeresbrausen gesehen, wo er jedem Gast einen Grog ausgegeben hat. Er sagt, er ist ein Seemann in Not, der eine Unterkunft sucht.«
Primus tätschelte dem verdreckten Jungen den Kopf und drückte ihm eine Münze in die Hand. Dann wandte er sich wieder seinen Vorbereitungen zu, und noch an diesem Nachmittag hörte man, die Traumherz werde in drei Tagen auslaufen.
Am Tag bevor die Traumherz Segel setzte, wurde beobachtet, wie Primus seine Kutsche und die vier Pferde an den Stallmeister in der Warble Street verkaufte; dann marschierte er den Kai hinunter und verteilte kleine Münzen an die Gassenkinder. Schließlich begab er sich in seine Kabine auf der Traumherz, mit der strikten Anweisung, er wolle von niemandem gestört werden, ganz gleich aus welchem Grund, bis das Schiff mindestens eine Woche unterwegs war.
An diesem Abend hatte einer der Matrosen, die für die Takelung der Traumherz zuständig waren, einen Unfall.
Er stürzte im Vollrausch auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster der Revenue Street und brach sich die Hüfte. Glücklicherweise stand schon ein Ersatzmann bereit: der Matrose, mit dem der Verunglückte den ganzen Abend lang gebechert hatte und der sich von diesem einen besonders komplizierten Tanzschritt auf den nassen Steinen hatte zeigen lassen. Und eben dieser Matrose unterschrieb in dieser Nacht die Schiffspapiere mit einem Kringel. Als das Schiff am nächsten Tag im Morgennebel den Hafen verließ, war er auf Deck. Die Traumherz segelte ostwärts.
Lord Primus von Stormhold aber beobachtete frisch rasiert von der Klippenspitze, wie das Schiff davonsegelte und schließlich verschwand. Dann wanderte er hinunter zur Warble Street, wo er dem Stallknecht das Geld mit einem kleinen Bonus zurückgab. Dann nahm er die Küstenstraße nach Westen, in einer dunklen Kutsche, gezogen von vier schwarzen Pferden.
Die Lösung war naheliegend. Schließlich war das Einhorn schon fast den ganzen Morgen hinter ihnen her gelaufen, wobei es die Sternfrau gelegentlich in die Schulter geknufft hatte. Die Wunden auf seinen scheckigen Flanken, tags zuvor unter den Klauen des Löwen grell wie rote Blumen, waren nun getrocknet und mit Schorf bedeckt.
Die Sternfrau hinkte und humpelte und stolperte, und Tristran trottete neben ihr her, sein Handgelenk mit der kalten Kette an das ihre gefesselt.
Einerseits hatte Tristran fast das Gefühl, es wäre ein Sakrileg, auf dem Einhorn zu reiten. Schließlich war es ja kein Pferd und hatte daher auch nichts mit der uralten Übereinkunft zwischen Mensch und Pferd zu schaffen.
Weitere Kostenlose Bücher