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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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Routineangelegenheit. Wir müssen Sie nach Potsdam bringen. Herr Stieber wünscht Sie dort zu sprechen.«
    »Ich werde in Reims erwartet!« schrie Lecoq.
    »Steigen Sie aus!« forderte ihn der Mann auf. Er trat auf den Gang und machte die Abteiltür frei.
    »Und er?« fragte Lecoq. »Er heißt Lamartine, er ist mein Gefangener, meine Regierung wird   ...«
    Der Mann zuckte mit den Achseln. »Es war nur von Ihnen die Rede.«
    »Das hat ein Nachspiel! Sie sind mir persönlich für diesen Gefangenen verantwortlich!« schimpfte Lecoq nun auf französisch.
     Den Deutschen schien das wenig zu beeindrucken. Er trat wieder ins Abteil, griff Lecoq mit beiden Händen gleichzeitig in die
     Rocktaschen und fand sofort die Schlüssel zu den Handschellen. Er warf den kleinen Schlüsselbund auf die Sitzbank neben Lamartine.
     Dann zog er Lecoq aus dem Abteil und warf die Tür zu.
    Lamartine hörte die eiligen Schritte der beiden. Er schloß die Handschellen auf, erhob sich und lehnte sich aus dem Fenster.
    Die Kuh bewegte sich träge. Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und wankte vom Gleis. Die Lokomotive pfiff, dann
     zitterten ihre Pleuelstangen, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
    Als Lamartines Waggon in der Kurve war, schaute er zurück.
    Die beiden Männer in Zivil führten den sich heftig wehrenden Lecoq über die Gleise.
    Sie stießen ihn in ein dichtes Waldstück.
    In dem Augenblick, in dem Lamartine das Abteilfenster schloß, fiel im Wald ein Schuß.

ANHANG
    »Daß die Dinge geschehen, ist nichts,
    daß sie gewußt werden, ist alles.«
    Egon Friedell

Ein Herr namens Schmidt
    Das Leben des Wilhelm Johann Carl Eduard Stieber
     
    ›Stieber‹ ist ein Roman. Dennoch handelt der Text von realen Personen und Vorgängen. Wilhelm Stieber hat wirklich gelebt.
     Er war der erste deutsche Geheimdienstchef, er hat 1870   /   71   Bismarck auf dem Feldzug nach Frankreich begleitet, er war maßgeblich am Sieg der preußischen Truppen und an der Durchsetzung
     der deutschen Einheit beteiligt. Über sein Leben und seine Arbeit als Geheimagent liegen nur wenige Zeugnisse vor – auch im
     19.   Jahrhundert waren Spionage und Gegenspionage ein Metier, das man nicht in aller Öffentlichkeit betrieb.
    In dem, was über Stiebers Wirken überliefert ist, gibt es deshalb Lücken. Viele Umstände seines Lebens sind nicht geklärt,
     weil er es für klüger hielt, sie ungeklärt zu lassen und statt der Wahrheit Legenden in die Welt zu setzen. Wer sich mit Stieber
     und seiner Zeit beschäftigt, stößt unweigerlich auf diese Lücken – die Frage nach dem Mörder des Mannes, dessen Leiche am
     10.   März 1871 auf einer Parkbank im Bois de Boulogne gefunden wurde, ist nur eine von vielen. Die Geschichtsbücher lassen wenig
     verlauten über die Vorgänge hinter den Kulissen der deutschen Sternstunden; viele fragwürdige Begleitumstände der ersten deutschen
     Einigung von 1871 sind erst in jüngerer Zeit ans Licht gekommen – oder überhaupt nicht. Vor allem dann nicht, wenn Stiebers
     Dienst seine Hand im Spiel hatte.
    Man kann die Fragen nach den Hintergründen des Geschehens offenlassen und sich mit dem begnügen, was die Protagonisten der
     Nachwelt überliefern. Ein Historiker, der auf Zeugnisse angewiesen ist, muß sich so lange mit einer unklaren Version abfinden,
     bis ein erhellenderBeleg auftaucht. Für einen Erzähler aber ist dieser Zustand des Halbwissens unhaltbar: Er folgt dem Impuls des Erzählens,
     des Herstellens von Sinn mit Mitteln der Phantasie. Das Geschäft eines Erzählers ist die Vergegenwärtigung von Vorgängen;
     diese Vergegenwärtigung ist – soll sie den Leser überzeugen – ebenso wie die Geschichtsschreibung auf Fakten angewiesen. Nur
     behandelt sie diese Fakten anders als die Historie. Sie fügt sie zu einem möglichst stimmigen, vor allem aber lebendigen Gesamtbild
     zusammen, dessen Leerstellen sie mit Hochrechnungen, Wahrscheinlichkeiten, Ahnungen, Halbwahrheiten und glatten Lügen auffüllt.
     Der penible Historiker mag die Nase rümpfen über diesen Umgang mit der Vergangenheit, allerdings wird er (beim Gespräch unter
     vier Augen) nicht abstreiten können, daß der Erzähler nur das mitteilt, was er sich insgeheim auch schon oft als mögliche,
     vielleicht sogar zwingende Wahrheit ausgemalt hat, ohne den Mut zu besitzen, es auch niederzuschreiben, weil ihm die historischen
     Belege dafür fehlen.
    Die Geschehnisse im Frühjahr 1871 in Paris und Berlin, von denen

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