Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
erst eingehend, dann nannte er ihm die Adresse einer »Penne« in der Potsdamer Straße in Schöneberg.
Der Polizist erklärte, diese Unterkünfte seien zwar für die obdachlosen Familien gedacht, die nach der letzten großen Mieterhöhung
auf die Straße gesetzt worden waren, aber wenn noch Platz wäre, nehme man auch Einzelpersonen auf. Falls sich nichts finde,
sollte Lamartine zum Stralauer Tor gehen. In einer »Spreezille«, einem umgestürzten Kahn, hätten sich Obdachlose Schlafstellen
eingerichtet. Sollte auch der Kahn voll sein, so könnte Lamartine sich einfach unter eine Drehscheibe der Rangierbahnhöfe
legen. Das machten dieser Tage viele der 50 000 Obdachlosen, erklärte der Schutzmann. Er warnte Lamartine jedoch davor, in einer der Bretterbuden oder Erdhöhlen am Stadtrand
unterzukriechen: Diese Quartiere seien illegal und würden regelmäßig durch die Polizei geräumt werden.
Lamartine war die Aussicht, mit mehreren Menschen zusammen in einem Zimmer übernachten zu müssen, unangenehm. Da ihm aber
keine andere Lösung einfiel und es bereits auf elf Uhr zuging, machte er sich auf den Weg. Er mußte befürchten, das Asyl verschlossen
zu finden, weil alle Betten bereits von Obdachlosen und reisenden Handwerkern belegt waren, die zu den neuen Baustellen in
die Stadt strömten.
Je näher er der angegebenen Hausnummer kam, desto größer wurden die Häuser an der Potsdamer Straße, eine einzige Hausnummer
nahm nun schon fast einen ganzen Block ein. Lamartine fielen Frauen auf, die reglos in den Eingängen der verlassenen Behörden
und Geschäftshäuser standen: Es waren dünne Gestalten in langen Mänteln, viele von ihnen trugen das Haar offen und verdeckten
damit ihre Gesichter.
Lamartine ging schneller.
»Psst!«
Er zwang sich dazu, dem Reflex zu widerstehen: Sein Kopf drehte sich nicht in die Richtung der Frau, die ihn auf sich aufmerksam
machen wollte.
»Psst! Psst!«
Er schaute in den Hauseingang, konnte aber nur die Konturen einer Frau erkennen.
»Psst!«
Lamartine schritt aus, er hatte gerade noch Geld für das Nachtasyl, für das es höchste Zeit war, wenn er nicht die kalte Nacht
am Stadtrand verbringen wollte.
»Herr Lamartine! So bleiben Se doch stehen!«
Lamartine stockte. Er sah sich vorsichtig um. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
Die Stimme kicherte. »Sie erkennen mich nich, wa?«
Sie dachte nicht daran, sich aus dem Dunkeln herauszubewegen. Lamartine trat näher.
»Sie!« schrie er auf. »Was machen Sie hier?«
»Wat wohl!« antwortete Mia. »Glauben Se, vom Kohlenhandel läßt sich eene Familie ernähren?«
Lamartine stammelte: »Hören Sie ... Sie sagten doch, es wäre nur ein einziges Mal gewesen ... ich wußte nicht, daß ... sonst ...«
»Wat sonst? Hätten Se sich dann nich mit mir abjejeben?«
Lamartine war in Verlegenheit. »Das meine ich nicht ... Ich meine, ich hätte versucht, Ihnen zu helfen.«
»Wie wollen Se mir helfen? Sie haben doch selbst nischt!«
Eine tiefere Stimme überfiel Lamartine von hinten: »Wenn er sich nischt entscheiden kann, dann schick ihn zu mir!« Als Lamartine
sich umdrehte, stand wenige Meter von ihm entfernt eine dicke Frau mit einem Pelzkragen und einer Uniformmütze. »Schon jut,
is ’n Freund der Familie«, beschied die junge Wilke ihrer Kollegin, wandte sich aber sogleich an Lamartine. »Oder möchten
Se Karoline kennenlernen?«
Lamartine wehrte ab: »Nein, vielen Dank, erstens habe ich kein Geld und zweitens ...«
»Erstens reicht mir schon!« bellte Karoline und setzte ihren Weg fort.
»Hören Se!« sagte die Wilke. »Ick hab mit Mutter jeschimpft. Sie hätte Se niemals so schnell rausschmeißen dürfen – bloß weil
dieser Großkotz sich offspielt. Ick meine – jut, ick hatte och meinen Anteil dran, schließlich hat der Stieber mir mächtig
Angst jemacht. Aber heut morjen ha’ ick mir alles noch mal durch den Kopf jehen lassen, wa. Se ham schließlich im voraus bezahlt,
ham Se das denn völlig verjessen?«
Das hatte er wirklich vergessen.
»Ick hab zur Ollen jesacht: Wir sind doch keene Unmenschen! Wir schicken eenen Fremden doch nich in de Kälte hinaus, bloß
weil so ’n Kriminaler offtaucht und rumstinkt!«
»Aber ich kann doch nicht so einfach zu Ihrer Mutter zurück und sagen: Hier bin ich, ich will den Rest meiner Miete abwohnen.
Zumal Sie sich Schwierigkeiten einhandeln könnten ...«
»Ach wat! Die Polente kann uns nischt vorwerfen –
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