Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
vierzehn Jahre alt is. Klärung könnte
nur ’n Gericht bringen.«
»Spielte sich das alles im Beisein der ... Ihrer Kolleginnen ab?« fragte Lamartine.
»Wir standen in eener Reihe da. Er lief an uns vorbei. Ick hatte den Eindruck, der merkt sich unsere Visagen.«
Lamartine dachte an François Vidocq, den Gründer der Pariser Sûreté, der mehr als fünfzig Jahre zuvor unter seinen Inspektoren
die »Parade« eingeführt hatte. Sie mußten sich regelmäßig in der Mitte der Gefängnishöfe aufstellen und die Häftlinge um sich
herummarschieren lassen. Bei dieser Gelegenheit prägten sich Vidocqs Polizisten die Gesichter der Kriminellen ein – damals
war das legendäre Archiv der neugegründeten Kriminalpolizei noch im Aufbau. Offensichtlich hatte Stieber diese Methode Vidocqs
übernommen.
»Wissen Se, wir sind’s jewohnt, komisch anjekiekt zu werden. Aber bei Stieber – det war keen Ekel und keene Geilheit. Der
war bloß neujierig. Wie ’n Forscher oda so wat. Und der wollte allet wissen – allet wat w’r machten, nich nur die Sauereien,
ooch det Normale, wat w’r so trieben den janzen Tachüber, aus welcher Kinderstube wir kamen und wat w’r so dachten ... Eene Kleene sachte später, se hat sich jefühlt wie bei der Einschulung. Eene andere machte eenen Knicks, und wissen Se
wat jeschah: Die anderen machten’s ihr nach! Selbst die schlimmsten Soldatenhuren!«
Lamartine wurde ärgerlich. »Was soll ich damit anfangen?« fuhr er Mia an.
Die Dirne drehte sich nach dem Wirt um und hob ihr Schnapsglas leicht an. Der Wirt griff nach der Flasche, die auf der Durchreiche
bereitstand, zwängte sich durch den Pulk der Gäste und schüttete Mia in weitem Bogen aus dem Schnabelhals heraus Schnaps ins
Glas.
»Das waren vier!« flüsterte er – mit einem Seitenblick auf Lamartine.
»Schreib’s an!« beschied ihm Mia und wandte sich wieder Lamartine zu, nachdem sie den vierten Schnaps geleert hatte. »Stieber
ließ die feinen Herren jehen. Damals dachte ick, er is schwach, aber ick hab’ mir in ihm jetäuscht. Ick gloobe, er hat sich
jeden Namen jut jemerkt und zu jejebener Zeit is ihm ooch der richtije Name wieder einjefallen.«
»Und Ilona?«
»Ick hab’se nie wiedajesehen. Dafür kam Stieber von nun an rejelmäßig ...«
»Als Freier?«
»Nee. Um mit uns zu quatschen. Stundenlang.«
»Er hat das Bordell also nicht schließen lassen?«
»Natürlich nich. Er hat unsere Olle bloß einige Monate lang in Atem jehalten.«
»Was verlangte er als Gegenleistung?«
»Zuerst wurden wir anjewiesen, wenn Stieber kam, keene Freier mehr zu empfangen. Det war, wie wenn der König persönlich uns
eenen Besuch abjestattet hätte: Alle Freier mußten raus, die Chefin bestand darauf, dat alles piekfein sauber jeputzt war,
wir mußten uns alle anziehen wie zur Sonntagsmesse und im Salon Platz nehmen. Er kam immer allein und spät nachts.«
»Was tat er?«
»Er hat sich Notizen jemacht.«
»Wovon?«
»Von unseren Jesprächen. Er quatschte die halbe Nacht mit uns.«
»Was?«
»Wo wir herkamen, wie wir in dem Bordell jelandet sind, wat unsere Eltern jetan haben, ob wir religiös waren, ob wir wußten,
was eene Sünde is, ob wir ein schlechtet Jewissen hatten, wenn wir bedienten, ob wir keene Skrupel hatten, wo de Freier doch
allesamt Familienväter und Ehrenmänner waren ...«
»Und ihr habt ihm auf alles geantwortet?«
»Zu Anfang nich, weil wir befürchteten, daß es sich um Vahöre handelte und se uns die Notizen später auf dem Revier unter
de Neese rieben. Dann hat er jesacht: Keen Jericht der Welt kriegt det zu sehen – und wir haben jeantwortet.«
»Warum stellte er alle diese Fragen?«
»Ich gloobe, der Kerl is besessen.«
»Besessen? Wovon?«
»Na ja, von alldem, vom Puff, vom Jeschäft halt ...«
»Ich dachte, er hielt es für eine Sünde.«
»Ja, schon, aber er hatte ooch Mitleid.«
»Mitleid?«
»Er sachte, wir sind nich nur Sünder, wir sind ooch Opfer.«
»Und – bist du auch dieser Meinung?«
»Ehrlich jesagt: Im Haus der Konfekthändlerin ging’s mir besser als jetzt. Ick mußte nich in der Kälte stehen oda so wat,
die Freier waren anjenehme Herren, keene Besoffenen, keene Schläjertypen ...«
Lamartine verstand.
»Warteste auf mich?« fragte Mia.
Er zuckte mit den Achseln.
»Ick nehm dir mit nach Hause ...«
»Mein Geld reicht nicht mehr, ich war gerade auf dem Weg in eine
Penne
.«
»Dort holste dir nur Flöhe. Und det
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