Stiefkinder der Sonne
waren auch die Nester alt, und das Ungeziefer hatte sich für neuere Eroberungen verzogen. Die halbverdauten Kotreste von Dante und Ouida, Homer und Robert Louis Stevenson, Silas K. Hocking und Ian Fleming waren jedoch geblieben.
Das Britische Museum stank. Es war der Gestank von Verfall und Tod und von blinder und abgrundtiefer Sinnlosigkeit. Da lagen jedoch auch Haufen von verkohlten Büchern, und an manchen Stellen war die Decke rauchgeschwärzt. Das war vielleicht ein Zeugnis der leeren Rache von ein paar Transnormalen an der Zivilisation, die sie früher abgelehnt hatte. Oder vielleicht auch nur das Werk von heimatlosen und verhungernden Kindern, die die Feuer angesteckt hatten, um böse Geister, mutig gewordene Tiere oder die bittere Kälte der Dunkelheit abzuwehren – bis die Ratten die Macht übernahmen.
Die Zerstörung war jedoch nicht allein auf die Bibliothek beschränkt. In der ägyptischen Abteilung stand noch die massive Statue von Ramses und verspottete die Ratten, Käfer, Transnormalen und die Zeit selbst. Überall sonst aber war alles Zerstörbare zerstört, das Brennbare verbrannt, das Eßbare gegessen.
Als Greville sich die düstere Leere der Hallen und Galerien ansah, war er überrascht, wieviel Geschichte aufgefressen werden konnte. Auf der anderen Seite, so überlegte er grimmig, war das Leben eigentlich schon immer kannibalistisch gewesen. Kulturen und Gesellschaften fraßen einander auf, genau wie Tiere und Menschen …
Liz war still. Unnatürlich still. Sie hielt nur wie ein kleines Kind seine Hand fest umklammert. Ein verängstigtes Kind. Kein Vater, der sie beruhigte, kein diskretes Flüstern von gewöhnlichen Menschen, die sich die Stücke mit lauwarmer und schicker Neugier anschauten. Nur bedrückende Hallen der Verlassenheit und eine fast greifbare Stille der Toten, die noch einmal sterben mußten.
In der düsteren Beleuchtung fiel es Greville plötzlich auf, daß Liz sehr blaß und verschüchtert aussah. Eine Zeitlang war er von der morbiden Tragödie um ihn herum so gefesselt gewesen, daß er kaum einen Gedanken an sie verschwendet hatte.
Nun aber wurde ihm plötzlich klar, daß es gut wäre, wenn er sie so schnell wie möglich hinausschaffen würde – in die Morgensonne.
„Komm“, sagte er. „Du hast schon zu viel gesehen.“
Sie schien sich nur durch eine enorme Willensanstrengung davon abhalten zu können, einfach wegzurennen. Draußen in der herrlichen Sonne seufzte sie vor Erleichterung tief auf. Und wurde auf der Treppe ohnmächtig.
Greville fing sie auf. Nach einer Minute oder zwei Minuten bekam sie wieder Farbe, und er gab ihr eine Flasche Bier.
„Na, dann hast du ja das gekriegt, was du wolltest. Die Besichtigungstour ist vorbei“, sagte er trocken. „Sollten wir nicht ein paar Meilen hinter uns bringen?“
Sie nickte. „Tut mir leid. Ich dachte … ich dachte …“
„Du dachtest, es würde alles traurig und unheimlich romantisch werden“, unterbrach er sie barsch. „Also, das ist es nicht. Es ist gemein und dreckig und abgrundhäßlich … Also, wenn du dich nicht übergeben mußt oder so was, dann steigen wir doch jetzt ins Auto und machen uns auf den Weg.“
Nach einer halben Stunde Fahrt, bei der sie einige kleine Umwege in Kauf nehmen mußten, lenkte Greville den Lieferwagen vorsichtig auf die Old Street und nach Shoreditch, wo er in die A10 einbog. Von da an fuhr er schneller. Wenn man auf der Hauptstraße fuhr, so war dies leichter, aber auch gefährlicher, denn das Gebiet um sie herum waren die Haupt jagdgründe für die meisten ‚fremden’ Plünderer.
Liz blieb noch immer in sich zurückgezogen. Sie saß zusammengesunken auf dem Beifahrersitz und starrte lustlos auf die Straße vor sich. Greville war von ihrer Reaktion sowohl in der Festival Hall als auch im Britischen Museum überrascht gewesen. Aus dem, was er von ihrer bisherigen Existenz wußte, hatte er gemeint, sie würde in der Lage sein, die Auflösung und Zerstörung der berühmtesten Punkte Londons locker hinzunehmen. Auf der anderem Seite, überlegte er, war die Stadt, an die sie sich erinnerte, die glänzende Stadt ihrer Einbildung aus ihrer Kindheit gewesen. Trotz ihres ‚Klosterlebens’ in Richmond – vielleicht sogar deswegen – hatte sie wahrscheinlich die glückliche Illusion gehegt, daß die Lage in einer Stadt, die einst zu den größten Städten der Welt gehört hatte, nicht gar so schlimm sein konnte.
Außer dem alten Mann, der seinen Sack hatte fallen lassen, um
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