Stiefkinder der Sonne
eher wie zehn Jahre erschienen. Liz erholte sich.
„Vielleicht wäre es besser, wenn wir die Besichtigungstour abbrechen und nach Norfolk zurückfahren würden“, sagte Greville sanft. „Hier in London ist nicht mehr viel übriggeblieben – außer Geistern und Aasfressern.“
Liz war jedoch trotz ihrer kaum getrockneten Tränen nicht von ihrem Vorhaben abzubringen. „Vielleicht komme ich nie wieder hierher“, sagte sie. „Vielleicht komme ich um oder bleibe im Norden hängen … London war so eine schöne, aufregende Stadt, nicht wahr? Ich möchte mir ein paar Erinnerungen eingraben, die ich den Enkelkindern erzählen kann, die ich höchstwahrscheinlich nie haben werde … Außerdem hast du es mir versprochen. Du hast mir zwei Stunden versprochen. Du würdest doch dein Versprechen nicht brechen, oder?“
Greville seufzte. „Wahrscheinlich wärst du keine Transie, wenn du nicht gern mit deinem Kopf gegen die Wand rennen würdest. Wohin geht es denn jetzt?“
„Zum Zentrum des Universums“, sagte Liz, plötzlich wieder fröhlich. „Picadilly Circus. Wir setzen uns in das Haus an der Lyon’s Corner und trinken Kaffee und schauen zu, wie all die Leute zur Arbeit gehen.“
Greville fuhr mit dem Auto zurück über die Westminster-Brücke, an der Themse entlang und die Northumberland Avenue hinauf. Als sie zum Trafalgar Square kamen, sah es einen Augenblick lang so aus, als sei es der Tag nach einem gigantischen Karneval oder einer Orgie größeren Ausmaßes. Zwei oder drei Busse waren noch zu sehen – einer von ihnen umgeworfen –, und die Einfahrt zur Strand war von einem Haufen Taxis und einer Ansammlung von großen und kleinen Privatwagen verstopft. Auch Menschen waren vorhanden. Sie lagen in sorgloser Lässigkeit herum, als seien sie zu betrunken, um sich zu bewegen, als hätten sie ein Jahrhundertereignis gefeiert – wie zum Beispiel das Ende des Kriegs, der das Ende aller Kriege bedeutete.
Das einzige, was dabei störte, war, daß sich nichts bewegte. Nichts als die Tauben, denn die Tauben waren noch da. Sie hatten die Konditionierung von Jahrzehnten hinter sich und würden wahrscheinlich Trafalgar Square noch lange nachdem der letzte Londoner tot war, unsicher machen.
Noch während Liz und Greville zusahen, löste sich der Morgen nach dem Karneval zu einem sonnenbeschienenen Alptraum auf. Die Busse waren nur noch rostige Hüllen, von den Taxis hatte man alles irgendwie Verwendbare abgerissen – sogar Räder und Kühlergrills –, und von den Autos waren manche von Kugeln durchlöchert. Die Betrunkenen – Männer, Frauen und einige Kinder – waren nichts als zerfledderte Vogelscheuchen, Skelette, die dort lagen, wo sie gefallen waren. Manche von ihnen hielten noch verrostete Gewehre wie seltsame Talismane in den Armen, die nur noch gebleichte Knochen waren.
Und nur die Tauben bewegten sich noch. Sie hatten gefressen (auch die Tauben hatten sich an die neue Ordnung und an die neue Diät gewöhnt) oder in der Sonne gesessen oder sich gestritten oder waren nur wichtig zwischen den Bussen umherstolziert. Das Geräusch des Autos aber hatte sie gestört; sie erhoben sich wütend und lautstark in das Licht der Morgensonne und flogen um das hohe Standbild Nelsons herum, der noch immer auf seiner Säule stand und heiter mit großen, blinden Augen in die Ferne starrte.
Ein Schuß knallte. Vor dem Lieferwagen sprang ein Stück Asphalt in die Luft.
„Dachte ich mir doch, daß da noch ein oder zwei Leute sind!“ schnappte Greville wütend. Er knallte den ersten Gang hinein und gab Gas. Eine zweite Kugel jaulte klagend von der Stelle als Querschläger in die Luft, wo noch vor einem Augenblick das Auto gestanden hatte.
Greville fuhr geschickt um den umgeworfenen Bus herum, wich im Zickzack den Wracks der kleineren Autos aus und fand dann eine freie Strecke durch die Cockspur Street und den Haymarket.
Picadilly Circus bot das gleiche Bild von versteinerter Verlassenheit wie Trafalgar Square, nur daß hier zwei riesige Panzer den Eingang zur Regent Street versperrten und daß Eros – die zierliche Statue, die einst für Hunderttausende von Londonern wie ein unwiderstehlicher Magnet gewirkt hatte – gesprengt worden war.
Am Picadilly Circus hatte offensichtlich so etwas wie eine kleine Schlacht stattgefunden. Weit mehr Leichen als am Trafalgar-Square lagen umher, und an den Knochenhaufen hingen hier und da noch die zerfetzten Überreste von Uniformen. Die Vorderseite des London Pavillon war ebenso
Weitere Kostenlose Bücher